Urteil im Fall Tugce: Vorbild und Mahnung

Das Urteil im Fall Tugce steht fest - jetzt wird es eingeordnet
Das Urteil im Fall Tugce steht fest - jetzt wird es eingeordnet

Die Grautöne fehlten in der Berichterstattung über den Fall Tugce Albayrak, monierten Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht gleichermaßen. Tugce Albayrak sei nicht die strahlende Heldin gewesen, zu der sie die Medien machten, und Sanel M. nicht der finstere Schläger. Die mediale Vorverurteilung ist in der Tat zu rügen. Wie so oft in letzter Zeit. Sie hatte weitreichende Folgen.

Von Wiebke Ramm

Zeugen gelten vor Gericht ohnehin als schwaches Beweismittel. Zeugen irren, Zeugen lügen, Zeugen vergessen. Der persönliche Eindruck, den sie vor Gericht machen, ist nicht selten ein anderer, als der, den sie in polizeilichen Vernehmungsprotokollen erwecken. So auch in diesem Prozess. Manche können keinen Satz geradeaus formulieren, andere wollen erkennbar ihren Freunden gefallen, wieder andere trauen sich nicht zu sagen, wenn sie etwas nicht sicher wissen. Das alles ist bedeutsam, um bewerten zu können, wie glaubhaft die Angaben des Zeugen sind – die im Zweifel über die Freiheit eines Menschen entscheiden.

Erschwerend kommt hinzu, wenn Zeugen so jung sind wie in diesem Fall und täglich das Urteil lesen müssen, dass die Medien noch bevor der Prozess überhaupt begonnen hatte, über den Angeklagten Sanel M. gefällt haben. Die wenigsten Zeugen sind geübt im Umgang mit Medien. Selbst Erlebtes und Angelesenes können nicht nur sie schwer unterscheiden. Schlimmstenfalls bleibt die Erforschung der Wahrheit auf der Strecke. Im Tugce-Prozess hat der Richter kapituliert: Die Zeugenaussagen seien „allesamt vergiftet“, also nicht verwertbar gewesen.

Hang zum Populismus

Dass in manchen Teilen der Medienwelt und offenbar auch unter manchen Politiker die Unschuldsvermutung nur noch als nicht ernstzunehmender Juristen-Schnickschnack gilt, ist äußerst bedenklich. Es zeugt von einem unverantwortlichen Hang zum Populismus. Ohne jede Rücksicht darauf, dass der Angeklagte im Fall Tugce erst 18 Jahre alt ist.

An einem aber ändert das alles nichts: Tugce Albayrak bleibt eine selbstbewusste junge Frau, die sich angstfrei mit einer Gruppe Halbstarker angelegt hat. Sie hat sich schützend vor zwei Mädchen gestellt, die sich vermutlich nicht ohne Grund auf die Damentoilette zurückgezogen hatten, einem Bereich, zu dem Männer gemeinhin keinen Zutritt haben. Sanel M. und seine Freunde ignorierten das. Dann bekamen sie es mit Tugce Albayrak zu tun.

Sie traute den Jungs offenbar nicht. Dass Sanel M. bereits wegen eines Gewaltdelikts vorbestraft ist, dass er es von seinem Vater kennt, Konflikte mit Schlägen auszutragen, konnte sie nicht wissen. Hätte sie es gewusst, hätte sie vielleicht vorsichtiger agiert, vielleicht auch noch entschlossener. Beides wäre begründet gewesen.

Die Grautöne fehlen

Als die Situation eskaliert, nennt sie Sanel M. wohl einen „Hurensohn“, läuft schimpfend auf ihn zu. Sie erkennt nicht, dass sie sich mit einem Jungen anlegt, zu dessen Leben Gewalt gehört. Vermutlich hat sie seine Sprache benutzt, um ihn zu erreichen.

Tugce Albayrak sollte trotz allem ein Vorbild bleiben: selbstbewusst, couragiert. Zugleich muss ihr Einsatz Mahnung vor allem für alle Frauen sein: Passt auf, wem ihr Paroli bietet! Vertraut nicht darauf, dass Männer keine Frauen schlagen! Agiert besonnen, nicht pöbelnd!

Tugce Albayrak ist tot, Sanel M. ist Schuld daran. Die Grautöne fehlten, heißt es. Das Ende ihrer Begegnung aber bleibt schwarz-weiß.

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