Vierlinge mit 65 – eine deutsche Debatte


Eine 13-fache Mutter wird schwanger – und tritt damit in Deutschland nicht nur eine Debatte über künstliche Befruchtung los, sondern auch über Tabus und Klischees. Ihr Fall offenbart, wie rückständig viele Deutsche noch ticken.

Eine Analyse von Jan Rübel

Eine Frau spaltet Deutschland. Annegret Raunigk aus Berlin ist Lehrerin für Englisch und Russisch und steht kurz vor der Pensionierung – und ist schwanger. Damit hat die 65-Jährige Erfahrung, 13 Kinder hat sie schon. Möglich gemacht hat ihre erneute Schwangerschaft eine Methode, die in Deutschland verboten ist, nämlich eine Eizellspende. Die Kritik an Raunigks Entscheidung ebbt nicht ab, und sie scheint einhellig zu sein. Führende Gesundheitspolitiker der deutschen Regierungskoalition monieren, ihr Verhalten dürfe kein Vorbild sein. Man dürfe nicht alles machen dürfen, was man medizinisch machen kann. Und in den Sozialen Medien erntet die Berlinerin nur Spott und Verachtung.

Was ist genau passiert? Raunigk hat die Wechseljahre längst hinter sich, ist also nicht mehr fruchtbar. Daher benötigte sie eine fremde Eizelle. In Deutschland kann nur eine Eizelle befruchtet werden, wenn der Frau, von der sie stammt, eine Schwangerschaft ermöglicht werden soll. In anderen Ländern gibt es solche Bedingungen nicht – so wie in der Ukraine. Dorthin war Raunigk gereist. Zahlreiche Kliniken werben auf ihren Website mit ihren Technologien, die um die 5000 Euro kosten.

Raunigk : Ich lebe so, wie ich möchte.
Raunigk : Ich lebe so, wie ich möchte.

Diese Verfahren sind gefährlich, weil sie die Gesundheit der Eizellenspenderinnen, der möglichen Schwangeren und der Ungeborenen gefährden. Da kann vieles schief gehen. Aber es kann auch klappen. Ein Einwand aus Deutschland ist, dass kein Eizellenhandel entstehen solle.

Medizinischer Fortschritt wird nicht nur angehimmelt

Die strikte Haltung in Deutschland erklärt sich zum Teil mit den schlimmen Erfahrungen aus der Nazi-Zeit. Menschenexperimente waren alltäglich, der Respekt vor menschlichen Wesen war auf ein Minimum gesunken; unter dem Stichwort der „Euthanasie“ zum Beispiel wurden Menschen mit Beeinträchtigungen umgebracht. Daher hat die Bundesrepublik in ihrer Gesetzgebung ethischen Bedenken gegenüber technologischen Arbeiten „am Menschen“ einen großen Stellenwert eingeräumt. Andere Länder gehen unbefangener mit medizinischem Fortschritt um.

Annegret Raunigk: Erneutes Mutterglück - mit 65 Jahren
Annegret Raunigk: Erneutes Mutterglück - mit 65 Jahren

Die Debatte um den Fall Raunigk zeigt aber auch andere Dimensionen auf: und zwar, wie konservative und rückständige Strukturen Deutschland noch immer durchziehen. Die Vorwürfe in aller Kürze: Die 65-Jährige sei egoistisch, weil sie im Vergleich zu anderen Müttern wenig Lebenszeit mit ihren Kindern verbringen würde. Sie sei lebensfern, weil ihr wohl nicht schwane, wie stressig der Alltag mit Vierlingen für eine Frau im Großmutteralter sei. Schließlich gebe es Berichte, wie ihre aktuell jüngste Tochter, die zehn Jahre alt ist, auf dem Schulhof gehänselt werde, weil ihre Mutter aussieht wie eine Oma.

Eines vorweg: Würde Deutschland so erregt debattieren, würde ein 65-jähriger Mann Vater werden? Mitnichten. Kinder, das ist in Deutschland immer noch Frauensache – und damit ist nicht die Schwangerschaft, sondern die Erziehung gemeint. Immer noch erhalten Frauen in Deutschland niedrigere Gehälter als ihre Kollegen für die gleiche Arbeit. Immer noch ist Teilzeitarbeit bei vielen Arbeitgebern ein rotes Tuch. Kitas gibt es längst nicht flächendeckend und für alle. Und oft werden Frauen mit 40 schief angeschaut, wenn sie „noch“ nicht schwanger sind. Oft ist die Rede davon, dass die „biologische Uhr“ ticke – dass also eine so genannte rote Linie des Alters nicht überschritten werden solle. Interessant ist, dass diese biologische Uhr in anderen Ländern leiser tickt. In Italien zum Beispiel kommt es öfters als in Deutschland vor, dass Frauen über 40 schwanger werden. Die Vorstellung, dass Frauen jung Kinder kriegen, zuhause bleiben und der Mann für das Geld sorgt, ist in Deutschland weiter verbreitet als anderswo.

Annegret Raunigk wird nochmal Mutter - und das mit 65 Jahren
Annegret Raunigk wird nochmal Mutter - und das mit 65 Jahren

Klischees wirken hart wie Zement

Raunigk selbst hat zu dem Trubel um ihre Person gesagt: „Jeder kann seine Meinung dazu haben. Jeder kann so leben, wie er will. Ich lebe so, wie ich möchte.“ Und weiter: „Wie muss man mit 65 sein? Man muss ja offensichtlich immer irgendwelchen Klischees entsprechen.“ Raunigk ist nicht egoistischer als andere werdende Mütter – ihre große Familie würde schon für die vier Kinder sorgen, sollte die Frau einmal nicht mehr da sein. Lebensferne einer berufstätigen und 13-fachen Mutter vorzuwerfen, ist naiv; Raunigk wird schon kennen, worauf sie sich einlässt. Und wenn ihre jüngste Tochter wegen des Alters ihrer Mutter gehänselt wird, fällt das nur auf Deutschland zurück.

Bisher, so heißt es, verläuft Raunigks Schwangerschaft problemlos. Ihr ist zu wünschen, dass dem so bleibt.

Sehen Sie auch: Frau merkt bis zur Geburt nicht, dass sie schwanger ist