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Rotes Kreuz: „Die Ebola-Krise wird noch zunehmen“

Peter Maurer ist der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. (Bild: dpa)
Peter Maurer ist der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. (Bild: dpa)

Ob Afrika, Ukraine oder Naher Osten: immer mehr Konflikte, Flucht und Leiden überziehen die Erde. Viel zu tun also für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Ihr Präsident Peter Maurer stellt sich auf schwere Zeiten an – und kritisiert in einem exklusiven Interview mit Yahoo die mangelnde Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft die Probleme im Konsens anzugehen.

Herr Maurer, eine humanitäre Krise jagt derzeit die nächste. Ist das die schwierigste Zeit für das IKRK seit Jahren?

Peter Maurer: Für uns ist eine neue Zeit angebrochen. Wir haben eine Vielzahl von Krisen, die sich parallel beschleunigen. Es gibt immer mehr Gewaltopfer – auch in bisher stabilen Gesellschaften wie der Ukraine oder des Nahen Ostens, wo es über Jahrzehnte feste Regierungen gab und die Menschen nicht in Massen hungerten. Neu ist auch, dass wir es früher gewohnt waren, auf humanitäre Krisen kurzfristig zu reagieren. Heute kehren die Krisen immer wieder und enden kaum.

Woran liegt das?

Peter Maurer: Das internationale System kann nicht mehr so für Ordnung sorgen wie früher. Die Nachkriegsordnung brachte neben den Spannungen auch Stabilität. Nach dem Fall der Mauer haben die Staaten jenseits aller Differenzen noch in den neunziger Jahren kooperiert. Aber das fehlt heute zunehmend. Wir sehen, dass ein internationaler Konsens immer schwieriger zu erzielen ist, die einzelnen Staaten verfolgen mit einer Art Freipass nun in erster Linie ihre eigenen, nationalen Interessen. Und so eskalieren Krisen eben immer rascher.

Fühlen Sie sich manchmal ohnmächtig?

Peter Maurer: Wir tun unseren Job. Wir können diese politischen Krisen ja auch nicht lösen, wir als IKRK können nur ihre humanitären Folgen lindern. Je größer der Mangel im internationalen politischen System, desto mehr haben wir zu tun.

Nun hat es auch einen Mitarbeiter Ihres Komitees getroffen – er starb durch eine Granate in der Ost-Ukraine. Ändert sich dadurch die Arbeit Ihrer Organisation vor Ort?

Peter Maurer: Es ist leider nicht der erste und einzige in diesem Jahr. Mittlerweile gehen wir davon aus, dass unser Mitarbeiter in der Ukraine leider zur falschen Zeit am falschen Ort war – also das IKRK nicht gezielt angegriffen worden ist. Wir haben einige unserer Arbeiten wieder aufgenommen und planen derzeit eine Offensive, um die Menschen in dieser Konfliktregion durch den Winter zu bringen. Denn die kalten Tage haben schon begonnen.

Was muss getan werden?

Peter Maurer: Gerade versorgen wir zerstörte Krankenhäuser mit Medizinvorräten, auch liefern wir Glas, Zement und Dachmaterialien, um Wohnhäuser wasser- und windfest zu machen. Und Wasserleitungen müssen repariert werden – da unterstützen wir die lokalen Behörden.

300.000 Vertriebene leben in der Region. Die Engpässe im Winter werden also kommen?

Peter Maurer: Wenn es nicht mehr werden, könnten wir ihre Versorgung stemmen.

Sie helfen allen Opfern. Wer aber ist der Aggressor?

Peter Maurer: Wir kümmern uns um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts – also um die Zivilisten bei bewaffneten Konflikten. Wir fragen gerade nicht nach dem Ursprung der militärischen Gewalt. Weder vertraulich noch im offenen Gespräch. Das würde unsere Arbeit in Frage stellen.

Auch anderswo ist Ihre Hilfe gefragt. In Westafrika ist das Virus Ebola ausgebrochen – ist die Lage außer Kontrolle geraten?

Peter Maurer: Die Ebola-Krise wird noch zunehmen. Es ist eine Epidemie von globaler Größe und Gefahr. Und von einer Stabilisierung sind wir noch weit entfernt. Noch immer sind keine Impfstoffe vor Ort, es sterben immer mehr Menschen. Damit steigt auch das Risiko einer Eskalation.

Hat die internationale Gemeinschaft bisher versagt?

Peter Maurer: Die internationale Gemeinschaft hat die Lage anfangs völlig falsch eingeschätzt. So hat man zu spät und bis heute nicht ausreichend auf diese globale Epidemie geantwortet. Es gibt viele Ankündigungen. Aber wenn ich meine Kollegen vor Ort frage, was an Hilfe schon angekommen ist, ist das weniger als die warmen Worte. Und vor allem zu wenig im Vergleich zur Geschwindigkeit, in der sich Ebola ausbreitet.

Und nun?

Peter Maurer: Es ist in unserer globalisierten Welt eine Illusion zu glauben, dass sich solch eine Krankheit lokal begrenzen lässt. Jeder lokale Zusammenbruch eines Systems, wie wir ihn jetzt in Liberia erleben, birgt in sich die Gefahr einer globalen Gesundheitskatastrophe. Genau das riskieren wir gerade.

Westeuropas Regierungen betonen, man habe die Lage unter Kontrolle. Droht Europa wirklich keine Gefahr?

Peter Maurer: Ich nehme diese Äußerungen zur Kenntnis. Ich verstehe auch, dass die Leute beruhigt werden sollen. Wir müssen aber auch realistisch sein. Es ist vermessen zu denken, dass Seuchen dieses Ausmaßes in so kurzer Zeit unter Kontrolle sein können.

Was muss geschehen? Sollte der internationale Reiseverkehr eingeschränkt werden?

Peter Maurer: Solche Maßnahmen halte ich für problematisch. Ihre Folgen könnten schwerer wiegen als die Krankheit selbst, wenn das öffentliche und wirtschaftliche Leben zu sehr behindert würde. Auch die humanitäre Arbeit würde darunter leiden. Wir brauchen eine offene politische Debatte über die richtige Mischung von Einschränkung, Kontrolle und Hilfe vor Ort. Patentrezepte gibt es jedenfalls nicht.

Ist schon jetzt abzusehen, was konkret unternommen werden sollte, um einen Ausbruch in Europa zu verhindern?

Peter Maurer: Die europäischen Länder bauen gerade ihre Kapazitäten aus, um an Ebola Erkrankte schnell zu versorgen. Wichtig werden konkrete Evakuierungspläne sein, um erkrankte Hilfspersonen zu versorgen.

Ein dritter Brennpunkt Ihrer Arbeit liegt im Nahen Osten. Was benötigen das IKRK und andere Hilfsorganisationen am dringendsten?

Peter Maurer: Wir versorgen Zehntausende von Vertriebenen im Irak, und Hunderttausende in Syrien. Mehr als die Hälfte der gesamten syrischen Bevölkerung braucht Hilfe. Wir versuchen, dort mehr zu leisten. Denn die Lage eskaliert vielerorts und oft können wir nicht einmal zu den Leuten, die unsere Hilfe benötigen; es gibt zahlreiche bewaffnete Gruppen wie den „Islamischen Staat“ (IS), welche vielerorts humanitäre Akteure behindern. Immerhin leben bis zu neun Millionen Menschen im Einflussgebiet des IS. Diese müssen wir unterstützen können.

Sie verhandeln mit Vertretern des IS. Was sagen Ihre Mitarbeiter, wenn sie mit Vertretern von Regimes zusammenkommen, die Menschenrechte konsequent mit den Füßen treten?

Peter Maurer: Wir haben ein Mandat, mit allen Waffenträgern zu sprechen. Und es gibt einige überzeugenden Argumente auf unserer Seite: Wir sind zum einen bei den Bevölkerungen akzeptiert – das müssen auch Kriegsparteien zumindest ernst nehmen. Keine Armee kann sich auf längere Zeit halten, wenn sie sich gegenüber den Interessen der Zivilbevölkerung verschließt. Und zum anderen versuchen wir deren Bewusstsein dafür zu schärfen, dass auch sie Opfer und Gefangene werden können und selbst dann darauf hoffen, dass das humanitäre Recht auf sie Anwendung findet.

Ihre Organisation warnte vor einigen Wochen, dass die US-Luftschläge die humanitäre Lage noch verschlimmern. Hat sich seitdem etwas geändert?

Peter Maurer: Die Situation hat sich nicht verbessert. Wenn Bomben in dicht besiedelten Gegenden eingesetzt werden, leidet immer die Zivilbevölkerung – auch wenn es sich um militärische Ziele handelt. Diese Region hat seit Jahren zu viele Waffen gesehen. Daher appelliere ich an alle Konfliktparteien, die Zivilisten besser zu schützen. Unsere humanitäre Arbeit jedenfalls wird immer schwieriger.

Es gibt große Fluchtbewegungen im Nahen Osten. Welche Hilfe soll Europa leisten?

Peter Maurer: Zuerst einmal sollte man nicht so tun, als trage man die Last auf den eigenen Schultern. Die meisten Vertriebenen kommen nicht nach Europa, sondern werden von den Nachbarländern aufgenommen. Der europäische Kontinent muss für Bedürftige nicht nur offen bleiben. Er sollte sich auch mehr öffnen. In meinem Heimatland, der Schweiz, erhalten die Debatten über Flüchtlinge und Migranten oft besonders gehässige Untertöne. Und: Wenn wir uns nicht heute offen zeigen, wird uns das Problem früher oder später in größeren Problemen und größeren Flüchtlingsströmen vor die Füße fallen.

Wälzen wir die Verantwortung für die Flüchtlingsprobleme auf diese Länder ab?

Peter Maurer: Wer als Flüchtling irgendwie kann, reist nicht weiter als er muss. Wäre Europa offener, würden nicht notwendigerweise Millionen von Leuten kommen. Ich hoffe, dass Europa diese Aufnahmeländer stärker unterstützt.

Interview von Jan Rübel und Malte Arnsperger