„Internetsucht“: Straflager für chinesische Jugendliche

Sie machen Liegestützen unter dem Gebrüll der Aufpasser, putzen Toiletten, joggen in Tarnkleidung auf und ab. Die, die hier leiden, sind keine Schwerverbrecher. Es sind chinesische Jugendliche, die angeblich internetsüchtig sind. In dem asiatischen Land sind in den vergangenen Jahren rund 250 sogenannte Erziehungscamps für Internet- und Gamingabhängige entstanden.

In den Internet-Boot-Camps herrscht militärischer Drill. (Bild: AFP)
In den Internet-Boot-Camps herrscht militärischer Drill. (Bild: AFP)

Daxing, ein Vorort von Peking, die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Mit Trillerpfeifen wecken die Aufpasser die Jugendlichen in ihren Baracken. Raus zum Morgendrill, Joggen, Kampfsport, Liegestützen. „Mein Vater hat mich hierher gebracht, um angeblich einen Arzt zu besuchen. Dann hat er mich in einem Raum eingesperrt. Sie haben mir die Hände zusammengebunden“, sagt ein Jugendlicher in einem Videobericht der „New York Times“. Der Journalist fragt ihn, was er getan habe. Schluchzend antwortet er: „Ich war im Internet.“

Die Geschichten vieler Insassen des sogenannten „Zentrums für die Behandlung von Internetsucht“ in Daxing klingen ähnlich. Die meisten wurden unter einem Vorwand in eines der Erziehungscamps gelockt. 250 dieser Einrichtungen gibt es in China mittlerweile. Die Behandlung ist eine Mischung aus militärischem Drill und Psychotherapie und dauert in der Regel drei bis sechs Monate. Die Kosten: rund 1.000 Euro. Eltern werden angehalten, ebenfalls an Therapiesitzungen teilzunehmen.

Online-Zocker tragen Windeln, um nicht zur Toilette zu müssen

2013 verzeichnete der ostasiatische Staat mit 590 Millionen die meisten Internetuser weltweit, Tendenz steigend. Davon ist die größte Nutzergruppe unter 25 Jahren alt. China sorgt sich um seine Jugendlichen. Sie würden zu viel Zeit in sozialen Netzwerken und bei Online-Games verbringen, heißt es. Als erstes Land der Welt hat China die Internetsucht im Jahr 2008 zur Krankheit erklärt. Dabei ist unter Forschern umstritten, ob es so etwas wie eine Internetsucht tatsächlich gibt, oder ob die Betroffenen beispielsweise süchtig nach Spielen sind.

In China stellen sich solche Fragen nicht. Zur Erforschung der vermeintlichen Abhängigkeit scannen chinesische Mediziner die Hirnströme der angeblich Erkrankten. „Wer mehr als sechs Stunden am Tag im Internet verbringt und dabei nicht arbeitet oder studiert, ist süchtig“, behauptet Tao Ran, Suchtexperte und Leiter der Einrichtung in Daxing. Zocken und Internet nennt er deswegen auch das „elektronische Heroin“. Viele chinesische Teenager seien derart abhängig, dass sie Onlinespiele nicht einmal durch einen Gang zur Toilette unterbrechen wollten. Also würden sie Windeln tragen.

Nach Ansicht von Tao Ran tragen die Eltern häufig eine Mitschuld. Weil sie die Kinder nicht draußen spielen ließen, sie zum Lernen im Zimmer einsperrten, ihnen nicht genug Liebe vermittelten, zu hohe Erwartungen in sie setzten. Viele Jugendliche seien einsam. Die Ausflucht: das Internet.

Nach Boot Camp: Mehr Internet als zuvor

Am Ende des Aufenthalts im Internet-Boot-Camp scheinen manche Teenager geläutert. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtet von dem 23-jährigen He, der anschließend Bäcker anstatt Spieleprogrammierer werden wollte. Doch es gibt auch die umgekehrten Fälle. Die Agentur berichtet von einem Mädchen, das nach ihrer Rückkehr mehr Zeit im Internet verbrachte als zuvor.