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Neue Verfassung: Chile will Pinochets Vermächtnis loswerden

Die Polizei trägt einen regierungsfeindlichen Demonstranten, der bei Zusammenstößen verletzt wurde.
Die Polizei trägt einen regierungsfeindlichen Demonstranten, der bei Zusammenstößen verletzt wurde.

Heftige Proteste und blutige Krawalle haben das einstige Musterland Südamerikas schwer erschüttert. Eine Kernforderung der Demonstranten in Chile soll nun erfüllt werden: Das Land bekommt eine neue Verfassung. Die aktuelle stammt aus den düsteren Zeiten der Diktatur.

Santiago de Chile (dpa) - Rund 30 Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie will sich Chile endgültig vom dunklen Erbe der Pinochet-Diktatur befreien. Über die verschiedenen politischen Lager hinweg einigten sich die Parteien in dem südamerikanischen Land auf den Weg zu einer neuen Verfassung.

«Wir werden erstmals eine 100-prozentig demokratische Verfassung haben», sagte Senatspräsident Jaime Quintana nach einem Verhandlungsmarathon am frühen Freitagmorgen (Ortszeit). Lediglich die Kommunisten trugen die Einigung nicht mit.

Zuletzt war es in Chile zu Massendemonstrationen und zum Teil gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Neben einem besseren Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sowie mehr sozialer Gerechtigkeit forderten die Demonstranten auch eine neue Verfassung. «Wir wollen einen friedlichen und konstruktiven Weg aus der Krise», sagte Senatspräsident Quintana nach dem Durchbruch bei den Verhandlungen.

Die Chilenen sollen im April kommenden Jahres in einer Volksabstimmung darüber abstimmen, ob sie eine neue Verfassung wollen, wie die Vertreter der konservativen Regierungskoalition und der Opposition in der Hauptstadt Santiago de Chile mitteilten. Außerdem sollen die Wähler entscheiden, ob eine Verfassungsgebende Versammlung aus eigens dafür gewählten Delegierten die neue Verfassung ausarbeiten soll oder ob die Hälfte des Gremiums aus Parlamentariern besteht.

Wenn der neue Text ausgearbeitet ist, sollen die Bürger in einem weiteren Referendum darüber abstimmen. Chiles Verfassung von 1980 stammt noch aus Zeiten der Diktatur von General Augusto Pinochet. Trotz mehrfacher Reformen gibt es nach wie vor Kritik an ihrem autoritären Ursprung, der starken Bündelung von Machtbefugnissen bei der Zentralregierung und begrenzten Einflussmöglichkeiten der Bürger. In einer Umfrage hatten sich zuletzt 78 Prozent der Chilenen für eine neue Verfassung ausgesprochen.

Die Regierung des konservativen Präsidenten Sebastián Piñera begrüßte die Einigung. «Heute hat Chile gewonnen», sagte Regierungssprecherin Karla Rubilar. Innenminister Gonzalo Blumel sagte: «Dieses Abkommen ist ein fundamentaler und historischer Schritt, um einen neuen sozialen Pakt zu schließen.»

Das südamerikanische Land wird seit Wochen von heftigen Protesten und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei erschüttert. Rund 20 Menschen kamen bei den Krawallen ums Leben, mehr als 2000 Menschen wurden verletzt, zahlreiche Geschäfte wurden geplündert und mehrere Gebäude in Brand gesteckt.

Die Fassaden der Innenstadt von Santiago sind mit Graffiti übersät, zahlreiche Geschäfte bleiben geschlossen, Bankfilialen, Apotheken und Supermärkte sind mit Blech- und Holzplatten geschützt. An der Plaza Italia kommen täglich Tausende Demonstranten zusammen, die Polizei setzt Wasserwerfer und Gummigeschosse ein, Tränengasschwaden ziehen durch die Luft.

Angesichts der sozialen Unruhen sagte der chilenische Präsident Sebastián Piñera den Asien-Pazifik-Gipfel und die Weltklimakonferenz in Santiago ab. Dabei galt Chile in der Unruheregion Südamerika lange als Hort der Stabilität. Allerdings gibt es im reichsten Land der Region hohe Einkommensunterschiede. Darüber hinaus sind vor allem Bildung und Gesundheitsversorgung sehr teuer.

Die heftigen Proteste entzündeten sich letztendlich an einer relativ bescheidenden Erhöhung der Metro-Preise. Viele der Demonstranten forderten bald mehr: eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell und eine grundlegende Reform der Verfassung. «Die neue Verfassung wird soziale Grundrechte garantieren», sagte der christdemokratische Abgeordnete Matías Walker im Radiosender Cooperativa.

Die Unruhen, bei denen es zu schweren Sachbeschädigungen und zahlreichen Plünderungen kam, haben auch negative Auswirkungen auf die chilenische Wirtschaft. Die Regierung senkte ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr von 2,6 auf 2,0 Prozent. Die Landeswährung Peso sank auf ein Rekordtief.

Nach der Einigung der Parteien auf den Weg zu einer neuen Verfassung hellte sich die Stimmung an der Börse zumindest vorübergehend wieder auf. Nach Handelsbeginn am Freitag legte der Leitindex IPSA über 6 Prozent zu. «Wir haben eine sehr harte Krise erlebt, aber das ist ein starkes Signal für die Zukunft», sagte Finanzminister Ignacio Briones nach dem Durchbruch bei den Verhandlungen. «Die Maschine wird wieder laufen.»