Brand am Akw-Gelände - Expertin: Kein Grund zur Panik wegen Saporischschja, die wahre Atomgefahr liegt woanders

Video zeigt Feuer in Kernkraftwerk Saporischschja<span class="copyright">Twitter</span>
Video zeigt Feuer in Kernkraftwerk SaporischschjaTwitter

Nach einem Brand am Gelände des größten europäischen Atomkraftwerk in der Ukraine herrschte zunächst Panik. Atomkraft-Expertin Anna Veronika Wendland ordnet die Situation rund um das in russischen Händen befindliche Akw Saporischschja ein. Die reale Gefahr liegt in Kursk.

Die Meldung am Sonntagabend, dass ein Brand im Atomkraftwerk Saporischschja ausgebrochen ist, führte in den Medien zu heller Aufregung. Russen und Ukrainer machen sich gegenseitig verantwortlich für den Vorfall. Der Brand wurde laut der russischen Nachrichtenagentur Tass mittlerweile gelöscht.

FOCUS online: Frau Wendland, sie waren gerade im Supermarkt. Haben Sie Hamsterkäufe für den Notfall getätigt?

Anna Veronika Wendland: Nein. Es gibt keinerlei Grund, Angst vor einem Atomunfall zu haben, dessen Auswirkungen uns erreichen könnten.

FOCUS online: Sie schrieben in einer ersten Stellungnahme auf der Plattform X , dass die Formulierung „Feuer in Kühlsystem“ falsche Assoziationen heraufbeschwöre. Wie meinten Sie das?

Wendland: Das Akw Saporischschja ist seit rund zwei Jahren abgeschaltet. Es müssen nur noch geringe Wärmemengen abgeführt werden. Die Nachkühlkette funktioniert einwandfrei, und zwar ohne die Kühltürme, wo vermutlich die Russen Feuer gelegt haben. Wenn ein AKW abgeschaltet ist, wird es über ein sogenanntes Nebenkühlwassersystem nachgekühlt, das nicht über die Kühltürme läuft. Das sah also dramatischer aus, als es war.

FOCUS online: War oder ist nun Panik angebracht - oder nicht?

Wendland: Es gibt keinen Grund zur Panik. Es gibt auch keine erhöhten Strahlenwerte - den Reaktoranlagen, die weit weg von der Brandstelle sind, ist ja nichts passiert. Ich rate allen, auch Nachrichtenagenturen, sich Fachleute zu suchen, die ihnen die technischen Hintergründe erklären, bevor man dramatische Formulierungen in Umlauf bringt. Auch die Ukrainer haben das leider getan.

FOCUS online: Warum tun sie es dann?

Wendland: Das ist Teil der psychologischen Kriegsführung. Auch Russland spielt ständig mit der Angst vor einem atomaren Unfall oder dem Einsatz von Nuklearwaffen, Das sind Psy-Ops. Russland weiß, dass solche Angstbotschaften besonders in Deutschland auf fruchtbaren Boden fallen. Die Ukraine dreht ihrerseits an der Angstspirale, um die Welt in ihrem Sinne aufzurütteln: Helft uns gegen die Russen!

FOCUS online: „Es gibt keinen Einfluss auf die nukleare Sicherheit“ ließ IAEA-Direktor Rafael Mariano Grossi verlauten. Wie beurteilen Sie die Arbeit der IAEA?

Wendland: Die IAEA macht im Grunde ihren Job richtig, indem sie verlangt, alle AKW müssten frei von militärischen Aktionen bleiben. Die etwa 1000 russischen Soldaten sollten also aus Saporischschja abziehen. Nur hat die IAEA hier keine Handhabe gegen Russland. Es sind einige ihrer Inspekteure auf der Anlage, die laut Statut das Recht haben, sich frei auf dem Gelände zu bewegen und eigene Kontrollgänge durchzuführen. In der Realität ist das aber nur sehr schwer durchzuführen, da das Anlagengelände riesig ist und den IAEA-Leuten immer wieder Zugang zu einzelnen Gebäuden oder auch zu den nuklearen Kontrollbereichen verwehrt wird. Das sind Schikane-Spielchen.

FOCUS online: Was raten sie der IAEA?

Wendland: Ich sage ja immer, mit den Russen muss man Russisch sprechen - hart sprechen. Der russische AKW-Betreiberkonzern Rosenergoatom ist Komplize bei der Geiselnahme des AKW Saporischschja und duldet und fördert dort Zustände, die der kerntechnischen Sicherheit Hohn sprechen. Rosenergoatom zeigt, dass es die Nuklearsicherheit dem nationalistischen russischen Kriegsprojekt unterordnet. Unter normalen Bedingungen würde so eine Organisation ihre Lizenz verlieren - auch zum Betreiben russischer AKW.

Aber die IAEA ist eben keine Atomaufsicht, sondern eine diplomatische Organisation der UN. Und wie die UN halten sie sich zurück, um ihre Rolle als „ehrlicher Makler“‘ und ihre wenigen Hebel, z.B. die Inspektionen, nicht zu gefährden.

FOCUS online: Was wäre, wenn die Stromversorgung für die Kühlbecken ausfällt?

Wendland: Dann stehen die Nachkühl- und Beckenkühlpumpen still, es können auch elektrisch versorgte wichtige Armaturen nicht mehr gefahren werden. Es würde dann zu einer Aufwärmung des Kühlmittels in den Brennelement-Lagerbecken oder im Reaktorkern der sechs Blöcke kommen, sofern die Brennelemente nicht entladen sind. Bei der geringen Nachwärme würde es einige Tage bis zum Ausdampfen des Kühlmittels und  Überhitzen der Brennelemente kommen. Ich sehe aber aktuell keine Anzeichen, dass die Russen die Pumpen mutwillig abstellen könnten.

Aber da bleibt immer eine Ungewissheit: die russische Seite hat in diesem Krieg bereits entsetzliche Kriegsverbrechen begangen und den Kachowka-Damm gesprengt. Theoretisch könnten sie also alles mögliche machen, um die Anlage zu beschädigen, z.B. Sprengsätze am Primärkreislauf anbringen, die Anlage anfahren und bei heißer Anlage sprengen. Das wäre dann ein großer Reaktorunfall. Doch das sind Worst-Case-Überlegungen. Auch die Russen haben ja ein Interesse an Eigenschutz.

Der viel wahrscheinlichere Unfallpfad, vor dem auch Experten Angst haben, sieht so aus: Ein Stromnetz-Zusammenbruch durch Beschuss von Leitungen und Schaltanlagen bedeutet, dass die Anlage vom Landesnetz nicht mehr versorgt wird. Dann ist „Notstromfall“, d.h. die eigenen Notstromdiesel müssen dann die sicherheitswichtigen Verbraucher versorgen. Wenn es hier zu Problemen, gar Totalausfall käme, wäre die Anlage im Fukushima-Szenario: „station blackout“. Totaler Spannungsverlust. Saporischschja hat im Laufe des Krieges bereits acht Notstromfälle gemeistert. Glücklicherweise haben die Notstromaggregate jedes Mal funktioniert.

FOCUS online: Wie viele Atomkraftwerke gibt es in der Ukraine und in welchem Zustand sind die?

Wendland: Neben Saporischschja gibt es noch Rivne, Chmelnyckyj und Pivdennoukrainsk (das AKW Südukraine). An denen hängt derzeit, neben Stromimporten aus der EU, die gesamte Stromversorgung der Ukraine. Kohlekraftwerke, ein Teil der Wasserkraft- und Windkraftkapazitäten sind zerstört. Die AKW haben also eine Überlebensfunktion für die Ukrainer und werden auch wegen der nuklearen Risiken stark bewacht, ich nehme an, mit extrem guter Flugabwehr.

FOCUS online: Wie gut sind die Akw in der Ukraine oder Russland geschützt?

Wendland: Bis auf zwei kleinere Blöcke in Rivne, die baugleich mit tschechischen, slowakischen und ungarischen Blöcken sind, sind die ukrainischen Reaktoren ähnlich geschützt wie westliche Anlagen. Sie haben Stahlbeton-Vollcontainments, die ähnlich aufgebaut sind wie bei den französischen AKW. Allerdings nicht so gut wie die deutschen, die zuletzt abgeschaltet wurden. Für Zufallsbeschuss reicht der Schutz aus, aber einem gezielten Angriff würden die Containments nicht standhalten. Bei panzerbrechenden Geschossen wäre schnell Ende Gelände.

In Russland gibt es aber ein viel leichter verwundbares AKW, die Anlage Kursk bei der Stadt Kurtschatow, nur ein paar Dutzend Kilometer von den jetzigen Kampfhandlungen entfernt.

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Dort stehen vier Blöcke RBMK, d.h. grafitmoderierte Reaktoren vom Tschernobyl-Typ, zwei davon sind am Netz. Die Reaktorgebäude dieses Typs sind nicht besonders gesicherte, normale Industriegebäude. Ich würde den Russen raten, angesichts der Lage diese beiden Reaktoren besser abzufahren, aber wahrscheinlich geht es ihnen wie den Ukrainern - sie brauchen den Strom.

Surftipp: Kommentar von Professor Krause - Mit dem unerwarteten Kursk-Vorstoß verärgert Ukraine neben Putin auch die USA