„Wir brauchen eine Kehrtwende!“ - 12-Jährige in Haft: Experten fordern frühere Bestrafung schwerkrimineller Kinder
Spätestens seit dem Mord an Luise durch zwei Mädchen diskutiert Deutschland: Sollte man das Alter der Strafmündigkeit senken? Auf FOCUS online beziehen ein Polizist, ein Politiker und ein Rechtsanwalt Position. Einhellige Meinung: So, wie es ist, darf es nicht bleiben.
Dieses Gewaltverbrechen hat Deutschland erschüttert – und die Frage aufgeworfen, ob unsere Gesetze zur Bestrafung von Jugendlichen noch zeitgemäß sind.
Am 11. März 2023 töteten zwei Mädchen im Alter von 12 und 13 Jahren die Schülerin Luise aus dem nordrhein-westfälischen Freudenberg mit rund 70 Messerstichen. Eine der Täterinnen hatte zuvor im Internet recherchiert, dass die Strafmündigkeit in Deutschland erst mit 14 Jahren beginnt.
Die beiden Mädchen konnten also strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ein Umstand, der nicht nur bei den Hinterbliebenen von Luise auf Unverständnis stieß. Zumal es immer wieder zu furchtbaren Delikten kommt, bei denen die Täter noch keine 14 Jahre alt sind und damit einer Strafe entgehen.
Schon unmittelbar nach dem Fall Luise entbrannte eine hitzige Debatte um eine mögliche Senkung des Alters für die Strafmündigkeit.
Experten fordern Debatte um frühere Bestrafung von Kindern
Manche Politiker wie Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und Kriminologen wie Ralf Kölbel, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, lehnten eine Verschiebung der Altersgrenze ab. Sie verwiesen darauf, dass kriminelle Kinder unter 14 Jahren schon heute in Heimen oder in der Psychiatrie untergebracht werden können.
Doch es gibt gewichtige Gegenstimmen.
Auf FOCUS online sprechen sich drei Experten – ein Opfer-Anwalt, ein Polizist und ein juristisch versierter Bundestagspolitiker – für eine Gesetzesänderung aus. Zumindest sollte ihrer Sicht endlich eine ernsthafte Debatte über das Thema geführt werden.
Der renommierte Göttinger Opferanwalt Steffen Hörning hat unter anderem die Familie einer 15-Jährigen vertreten, die 2022 in Salzgitter von zwei Jungen im Alter von 14 und 13 Jahren ermordet worden war. Der jüngere Täter war noch nicht strafmündig und konnte juristisch nicht belangt werden. Ein Albtraum für die Hinterbliebenen.
Hörning sagte zu FOCUS online, er habe „mehrfach erlebt, wie Eltern, deren Kind durch die Hände eines Strafunmündigen getötet wurde, zutiefst darunter gelitten haben, dass der Mörder nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte“. Vor diesem Hintergrund verstehe er nicht, „dass der Gesetzgeber sich bis heute einem Diskurs mit Fachleuten zu diesem Thema verweigert“.
Er habe schon nach der Tötung der 15-jährigen Anastasia in Salzgitter von der Politik gefordert, „ergebnisoffen einen Runden Tisch mit Experten verschiedener Couleur einzurichten“, etwa Jugendrichtern- und Staatsanwälten, Verteidigern und Opferanwälten, Kinder- und Jugendpsychiatern, Jugendvollzugsleitern und Jugendgerichtshelfern. Dabei sollte erörtert werden, „ob eine Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze zum Beispiel auf 12 Jahre Sinn ergeben könnte“.
Hörning weiter: „Ich persönlich halte diesen Schritt für durchaus denkbar, unterscheiden sich doch 12-Jährige in ihrer geistigen und sittlichen Entwicklung heutzutage ganz erheblich von denen meiner Generation. Als Vater eines 14-jährigen weiß ich durchaus, wovon ich rede.“
Opfer-Anwalt Hörning: Auch an die Hinterbliebenen denken
Hinzu komme, dass schon jetzt „jeder jugendliche Straftäter, ganz egal ob 12 oder 17 Jahre alt, für sein Handeln nur dann bestraft werden kann, wenn er zur Tatzeit nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug gewesen ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln".
Der Rechtsanwalt kritisiert: „Das reflexartige Getöse der Gegner einer Herabsetzung der Strafunmündigkeitsgrenze immer schon dann, wenn auch nur das Nachdenken über einen solchen Schritt gefordert wird, läuft deshalb meines Erachtens völlig ins Leere.“
Auch der „stets vernehmbare Hinweis der Bedenkenträger auf die geringe Anzahl derart schrecklicher Ereignisse verfängt meiner Überzeugung nach nicht“, so der Jurist. Vielmehr müsse man „auch die Hinterbliebenen von Tötungen und Opfer massiver Sexualstraftaten, die leider auch vermehrt von Unter-14-Jährigen verübt werden, in den Blick nehmen“.
Mit einer Herabsetzung der Grenze würde man ihnen „wenigstens die Möglichkeit eröffnen, solch traumatische Geschehnisse durch eine strafrechtliche Befassung mit der Tat vielleicht ein wenig besser aufarbeiten zu können“, so Hörning zu FOCUS online. Der Anwalt: „Ich fordere ein intensives Nachdenken, keinen unreflektierten Schnellschuss. Das Thema ist zu ernst, um es Stammtischen zu überlassen.“
Ähnlich argumentiert Günter Krings, rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag.
Für ihn stehe fest, dass Gewalttaten von Unter-14-Jährigen „nicht ohne staatliche Konsequenzen bleiben können“. Insbesondere für Opfer-Angehörige sei es schwer zu ertragen, „dass ein Mord, der von Kindern begangen wird, nicht geahndet wird“. Aber auch für die Entwicklung der Täter-Kinder könne es „verhängnisvoll sein, wenn auf die Taten keine Konsequenzen folgen“.
Er verweist darauf, dass die aktuelle Strafmündigkeits-Grenze seit 1923 gelte. „Es ist fraglich, ob sie nach dem heutigen Reifegrad von Kindern und Jugendlichen noch angemessen ist.“ In den Niederlanden und Frankreich seien Kinder bereits mit 12 Jahren strafmündig, in der Schweiz oder England könne ein Verfahren sogar gegen Zehnjährige durchgeführt werden.
„Die Frage, ob das Strafmündigkeitsalter zumindest für schwere Straftaten gesenkt werden muss, erfordert jedoch eine gründliche Prüfung“, so der CDU-Politiker zu FOCUS online. „Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass auch schon 12-Jährige wissen, dass sie keinen Menschen töten dürfen. Bei Tötungsdelikten kann daher nicht mehr von einer jugendlichen Verfehlung gesprochen werden.“
CDU-Politiker Krings: Alterssenkung kann Kinder abschrecken
Nach den bisherigen Erkenntnissen spreche viel dafür, „dass gerade bei erheblichen Gewalttaten von einer Herabsetzung der Altersgrenze eine Abschreckung ausgehen kann“. Täter im Kindesalter hätten sich in der Vergangenheit gezielt über Strafmündigkeits-Regeln im Internet informiert, so Krings.
Der Unionsmann plädiert dafür, die Angemessenheit der Altersgrenze in einer Studie oder einem Gutachten wissenschaftlich zu überprüfen, „um evidenzbasiert die gesetzgeberischen Konsequenzen ziehen zu können“.
Im Hinblick auf Heranwachsende müsse das Jugendstrafrecht „in jedem Falle“ reformiert werden, so Krings. Es könne nicht sein, dass Gerichte bei heranwachsenden Straftätern zwischen 18 und 21 Jahren „fast immer Jugendstrafrecht anwenden“. Das Bundesverfassungsgericht habe schließlich bereits 2009 den Ausnahmecharakter der Anwendung von Jugendstrafrecht betont.
„Wir als Union sehen hier nur eine Lösung: Für Täter ab 18 Jahren muss künftig in allen Fällen das Erwachsenenstrafrecht gelten“, so Günter Krings.
Ähnlich hatte sich jüngst Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz geäußert. Der CDU-Chef forderte, die Anwendung des Jugendstrafrechts einzuschränken. Er habe „kein Verständnis“ dafür, dass Jugendliche zwischen 18 und 21 „fast regelmäßig nach Jugendstrafrecht und nicht nach Erwachsenstrafrecht verurteilt“ werden. Merz: „Ich finde, das sollten wir ändern.“
Wie rücksichtslos und brutal schon Kinder unter 14 Jahren sein können, müssen Polizisten deutschlandweit praktisch jeden Tag feststellen – und das seit vielen Jahren. Bereits 1997 forderte die Deutsche Polizeigewerkschaft DPolG die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters auf 12 Jahre – vergeblich.
DPolG-Bundesvize Manuel Ostermann unternimmt nun einen neuen Vorstoß.
„Wir erleben eine dramatische Entwicklung bei der Gewaltbereitschaft und eine drastisch reduzierte Hemmschwelle bei Jugendlichen und Kindern. Dabei geht es auch um Tötungsdelikte, gefährliche Körperverletzungen und Vergewaltigungen“, so Ostermann zu FOCUS online. „Schon deshalb brauchen wir dringend eine Debatte um die Reduzierung der Strafmündigkeit auf 12 Jahre!“
Der Polizist betont, dass eine Senkung des Alters nicht vorrangig dazu dient, „Kinder reihenweise in den Knast zu schicken“. Es gehe vielmehr darum, „jungen Menschen rechtsstaatliche Konsequenzen für ihr eigenes Handeln aufzuzeigen“.
Polizei-Gewerkschafter Ostermann: „Brauchen Kehrtwende!“
Wenn der Staat auf Verbrechen nicht angemessen reagiere und strafbares Verhalten ohne Konsequenzen bleibe, würden sich die jungen Täter noch bestärkt fühlen und munter weitermachen. Ostermann: „Kinder und Jugendliche merken schnell, dass sie nichts zu befürchten haben. Stattdessen genießen sie oft die Aufmerksamkeit und Anerkennung in ihrem sozialen Umfeld.“
Der Gewerkschafter zu FOCUS online: „Ein Strafverfahren mit geschulten und gut vernetzten Akteuren bei Polizei, Staatsanwaltschaften und Jugendbehörden kann eine segensreiche Wirkung entfalten.“ Blieben Konsequenzen aus, drehe sich „die Gewaltspirale immer weiter und der Respekt gegenüber unserem Rechtsstaat wird schon in jungen Jahren zerstört“.
Ostermann, der auch in der CDU aktiv ist, fordert mit Blick auf die Strafmündigkeit: „Es muss dringend gehandelt werden, aber nicht wie so häufig politisch korrekt, kopflos und wirkungslos!“
Vielmehr sollten sich Experten aus verschiedenen Bereichen zusammensetzen und über Maßnahmen gegen die ausufernde Kinder- und Jugendgewalt beraten. „Wir brauchen eine Kehrtwende!“
Eines dürfe man laut Ostermann nie vergessen: „Wer Opfer einer Gewalttat wird, dem ist das Alter des Täters egal. Er erwartet einfach, dass der Staat schnell und konsequent einschreitet – und das völlig zurecht.“