Breitscheidplatz: 100 Tage danach: Als der Terror nach Berlin kam

Die Morgenpost hat Akten gesichtet, mit Hinterbliebenen und Rettern gesprochen. Warum konnte der Anschlag nicht verhindert werden?

Wenn eine Ehefrau und Mutter eines fünfjährigen Sohnes getötet wird, von einem Mann, der zuvor einen Lkw kapert, den Fahrer erschießt, und dann mit mehr als 60 Stundenkilometer durch einen Weihnachtsmarkt pflügt, Menschen überrollt, die es in seinen Augen nicht verdient haben, zu leben; kann es danach so etwas wie Alltag geben? Wenn ja, dann sieht er in etwa so aus wie hier, 229 Kilometer vom Breitscheidplatz entfernt, in einer Altbauwohnung in Braunschweig.

Petr Čižmár, ein stämmiger, stoppelbärtiger Mann mit sanften, braunen Augen, hat mal wieder Minusstunden gesammelt. Der promovierte Physiker aus Tschechien arbeitet als Programmierer in Zeitarbeit. Die Tagesmutter ist heute krank. Čižmár hat sich deshalb drei Stunden vor Feierabend in sein Auto gesetzt, ist die Stunde zur Kita gefahren, dann mit dem Sohn nach Hause. In der Wohnung purzeln Kartons, türmen sich Dokumente, quillt Lego aus Kisten. Es ist die Wohnung eines Vaters, der versucht, sein Leben neu zu ordnen, eines Vaters, der weitermacht. Für den Sohn.

David lässt seinen Lego-ICE kreisen, erzählt atemlos von Schranken und Si­gnalen. Als er das Wort Berlin hört, sagt er: "Da ist meine Mami gestorben." Er zeigt auf ein Foto über dem Fernseher. "So sieht sie aus." Naďa Čižmárová, geboren am 2. Oktober 1982, gestorben am 19. Dezember 2016. David hat ihre Augen, ihre Nase. Er erzählt das allen, das mit dem Lkw. Beiläufig. Alltag eben. Und manchmal fragt er seinen Vater: "Und was ist, wenn dich jemand umbringt?"

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