Briten stimmen für Loslösung von Europäischer Union

Das Horrorszenario der EU-Befürworter wird wahr: Großbritannien hat sich für den Ausstieg aus der Europäischen Union entschieden. Premier Cameron tritt ab, die Börsen rauschen nach unten. Droht jetzt ein Zerfall der EU? Und auch des Vereinigten Königreichs?

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  • Aktienmärkte erleben “Black Friday”

  • Cameron kündigt Rücktritt an

  • Dax verliert über zehn Prozent

  • Eine Mehrheit von rund 52 Prozent der Briten sprach sich für den Brexit aus.

  • “Wir werden das geschafft haben, ohne kämpfen zu müssen - ohne dass auch nur eine einzige Kugel abgefeuert werden musste.” (Nigel Farage, Chef der EU-skeptischen Ukip-Partei)

Schock für Europa: Die Briten haben für den Austritt aus der EU gestimmt und stürzen den Staatenbund damit in die schwerste Krise seiner fast 60-jährigen Geschichte. In einem historischen Volksentscheid stimmten 51,9 Prozent für den Brexit. Premierminister David Cameron, der für einen Verbleib geworben hatte, kündigte seinen Rücktritt bis spätestens Oktober an. Er versicherte zugleich, dass Regierung und Parlament den Volkswillen respektieren und mit der EU den Austritt aushandeln werden.

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Die internationalen Finanzmärkte reagierten mit Kursstürzen. Das Pfund Sterling erreichte den tiefsten Stand seit 1985. Experten befürchten eine Wirtschaftskrise, Jobverluste und einen Währungsverfall. Die britische Zentralbank kündigte notfalls massive Stützungsmaßnahmen an: Man könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen.

Rechtsparteien jubeln: Die EU stirbt

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Rechtsparteien in Europa jubilierten. Erste Forderungen nach Referenden in anderen EU-Staaten wurden laut. Der britische Rechtspopulist Nigel Farage, einer der populärsten Brexit-Befürworter, frohlockte: “Die EU versagt, die EU stirbt.”

Auch dem Vereinigten Königreich selbst könnte ein Zerfall drohen. So strebt die schottische Regierungspartei SNP nun einen neuen Volksentscheid zur Loslösung von London an, um allein in der EU verbleiben zu können. “Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ist nun höchstwahrscheinlich”, sagte Ministerpräsidentin und SNP-Parteichefin Nicola Sturgeon. Bei dem Referendum hatten Schotten und Nordiren mehrheitlich für den Verbleib in der EU votiert.

Die Wahlbeteiligung lag bei 72 Prozent. Insgesamt stimmten 17,4 Millionen Wähler für den Brexit, 16,1 Millionen dagegen.

Wie geht es weiter? Alles zum möglichen Brexit finden Sie hier.

Der Chef der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, plädierte für zügige Austrittsverhandlungen mit der EU. Artikel 50 des Lissabon-Vertrags, der dies regelt, müsse “jetzt angewendet werden”, sagte er der BBC.

Cameron kündigt Rücktritt an

Der britische Premierminister David Cameron hat seinen Rücktritt für Oktober angekündigt. Er zieht damit Konsequenzen aus seiner Niederlage in der historischen Abstimmung über einen Austritt Großbritanniens aus der EU.

Er werde noch drei Monate im Amt bleiben, sagte Cameron am Freitag. Austrittsverhandlungen mit der EU sollten anschließend mit einem neuen Premierminister beginnen. “Das Land braucht ein neue Führung”, sagte der konservative Politiker.

Drängen auf baldige Austrittsverhandlungen

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Mit dem Austritt der Briten verliert die EU nach 43 Jahren London als die Finanzhauptstadt der Welt, ihre zweitgrößte Volkswirtschaft und das Land mit der drittgrößten Bevölkerung. Zudem ist das Land - zusammen mit Frankreich - einer von zwei EU-Staaten mit Atomwaffen und Ständigem UN-Sicherheitsratssitz.

Die Spitzenvertreter der Europäischen Union drängten Großbritannien zur Eile bei den Austrittsverhandlungen. “Jede Verzögerung würde die Unsicherheit unnötig verlängern”, erklärten EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Parlamentschef Martin Schulz und der niederländische Regierungschef Mark Rutte. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn forderte eine schnelle und zivilisierte “Scheidung”.

Großbritannien spielt auf Zeit

Großbritannien will aber offensichtlich auf Zeit spielen. “Es gibt keine Notwendigkeit für einen genauen Zeitplan”, sagte Cameron. Die Verhandlungen mit Brüssel solle sein Amtsnachfolger führen, der im Oktober gekürt werden könnte. Im Gespräch sind unter anderem Boris Johnson (52), Ex-Bürgermeister von London, Justizminister Michael Gove (48) sowie Schatzkanzler George Osbourne (45).

EU-Gipfelchef Tusk rief die verbleibenden Mitgliedstaaten auf zusammenzuhalten. Es sei nicht der Augenblick für hysterische Reaktionen.

Überblick: Vier mögliche Brexit-Modelle

Merkel: EU ist stark genug

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte, die EU sei stark genug, um die richtigen Antworten zu geben. Die Bürger müssten konkret spüren können, “wie sehr die Europäische Union dazu beiträgt, ihr persönliches Leben zu verbessern”. In den Verhandlungen mit Großbritannien über den EU-Ausstieg sollten die Beziehungen weiter “eng und partnerschaftlich” gestaltet werden.

Am Rande des EU-Gipfels am Dienstag und Mittwoch in Brüssel soll es bereits ein “informelles Treffen” der 27 geben - erstmals ohne Großbritannien. Für diesen Montag lädt Merkel zu Gesprächen nach Berlin ein. Zu verschiedenen Treffen im Kanzleramt werden Frankreichs Präsident François Hollande, Italiens Regierungschef Matteo Renzi sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk erwartet.

Hollande: Kein Weitermachen wie bisher

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Hollande forderte ein Aufbäumen Europas. Die EU dürfe nicht mehr so weitermachen wie bisher. Es gelte, hellsichtig die Mängel der EU und den Vertrauensverlust der Völker zu analysieren. “Europa ist eine große Idee, nicht nur ein großer Markt.” Renzi mahnte, Europa müsse sich verändern, damit es menschlicher und gerechter wird. Der polnische Präsident Andrzej Duda sagte, ein Domino-Effekt in anderen Staaten müsse vermieden werden.

Cameron hatte das Referendum bereits 2013 vorgeschlagen - vor allem mit dem innenpolitischen Kalkül, EU-Kritiker in den eigenen Reihen ruhigzustellen. Diese Rechnung ging nicht auf. Zahlreiche Warnungen von Politikern aus der ganzen Welt, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von Wirtschaftsverbänden verhallten ungehört.

Bundespräsident Joachim Gauck rief dazu auf, den Blick nach vorne zu richten. Der Austritt der Briten sei “nicht der Anfang vom Ende der Europäischen Union”. Der europäische Integrationsprozess habe bis heute vielen Ländern einen enormen Zugewinn an Wohlstand, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gebracht. “Wir sagen am heutigen Tage aus guten historischen, ökonomischen und politischen Gründen Ja zu Europa und zu seiner Union.”

Aktienmärkte erleben “Black Friday”

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“Black Friday” an der Börse: Das Votum der Briten für einen Ausstieg aus der Europäischen Union hat am Freitag die Aktienmärkte in Europa und Asien einbrechen lassen. Der Dax fiel im frühen Handel um 8,00 Prozent auf 9436,92 Punkte. Zwischenzeitlich hatte der deutsche Leitindex sogar 10 Prozent verloren. Der größte Schock nach dem Volksentscheid in Großbritannien für einen Brexit scheint aber überwunden zu sein. Der Dax gab bis zum Nachmittag nur noch um 6,77 Prozent auf 9563,13 Punkte nach.

Der Eurozonen-Leitindex EuroStoxx 50 rutschte in der Früh um 9 Prozent ab, genauso wie der französische CAC 40. An der Londoner Börse knickte der FTSE 100 um gut 8 Prozent ein. Damit erleben Europas Börsen die größten Verluste seit der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009. Zuvor war bereits der japanische Nikkei-225-Index um annähernd 8 Prozent gefallen.

“Alle sind falsch positioniert”, sagte ein Börsianer am frühen Morgen. “Keiner hat damit gerechnet, dass die Briten wirklich austreten. Jetzt gibt es immensen Absicherungsbedarf.” Seit Mitte der Vorwoche war der Dax in zunehmender Hoffnung auf einen Verbleib der Briten noch um fast 9 Prozent angesprungen.

Während zur Handelseröffnung noch etwa die Hälfte aller 30 Dax-Werte prozentual zweistellig nachgegeben hatten, waren es zuletzt nur noch zwei Werte. Unter ihnen befanden sich die Papiere der Deutschen Bank mit rund 15 Prozent Minus und die der Commerzbank mit minus 13 Prozent. “Das ist kein guter Tag für Europa”, sagte Deutsche-Bank-Chef John Cryan.

Deutsche Aktien auf Talfahrt

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Auch die Aktien der exportlastigen Autobauer fielen deutlich, genauso die Papiere der in Großbritannien engagierten Versorger RWE und Eon. Vergleichsweise gut hielten sich die als wenig konjunktursensibel geltenden Aktien von Konsumgüterkonzernen wie Henkel oder Beiersdorf oder auch die Papiere des größten deutschen Immobilienkonzerns Vonovia mit Verlusten zwischen 2 und 5 Prozent.

“An der Börse muss man auch stets das Unmögliche denken”, sagte Marktexperte Daniel Saurenz. Dies hätten die Investoren zuletzt offenbar nicht mehr getan. Der bislang schwärzeste Tag im Dax war 1989 mit einem Rutsch um letztlich 12,81 Prozent. Um diesen Negativrekord einzustellen, müsste der Dax aber deutlich unter 9000 Punkte abrutschen.

Auch abseits des Aktienmarktes sorgte das Brexit-Votum für extreme Verwerfungen: Während das Pfund einbrach und zwischenzeitlich auf den tiefsten Stand seit 1985 fiel, war vor allem der japanische Yen als Fluchtwährung gesucht. Auch Gold und Anleihen waren am Morgen als “sichere Häfen” gefragt.

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Quelle & Bilder: dpa

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