Bundeswehr-Oberst bei "Anne Will" zur Zeitenwende: "Verstehen es jetzt alle?"

Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, monierte den vermeintlich fehlenden politischen Willen, die deutsche Parlamentsarmee zu stärken. (Bild: ARD)
Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, monierte den vermeintlich fehlenden politischen Willen, die deutsche Parlamentsarmee zu stärken. (Bild: ARD)

Ein Jahr ist es her, dass Kanzler Scholz die Zeitenwende proklamierte. Der Zustand der Bundeswehr habe sich laut der Wehrbeauftragten seitdem sogar verschlechtert. Bundeswehr-Oberst André Wüstner vermisste bei "Anne Will" den politischen Willen, die Armee zu stärken.

Vor einem Jahr fiel das Wort in einer Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), später wurde es sogar zum "Wort des Jahres" gekürt: "Zeitenwende". Doch was hat sich seit Russlands Einmarsch in die Ukraine wirklich verändert? Die Wehrbeauftragte Eva Högl erklärte zur Bundeswehr, von allem sei zu wenig da, Verteidigungsminister Pistorius ließ verlauten, es gebe im Falle eines Angriffskriegs keine verteidigungsfähigen Streitkräfte. Bei "Anne Will" (ARD) diskutierten unter anderem der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, und SPD-Politiker Ralf Stegner zur Verfassung der deutschen Parlamentsarmee.

André Wüstner trat auf, um den Finger in die Wunde zu legen. Er wollte zunächst klarstellen, dass die Soldatinnen und Soldaten in ihren Einsätzen einen "hervorragenden Dienst" leisten würden. "Dass einzig prekäre ist im Bereich Infrastruktur, insbesondere im Bereich des Materials", so der Oberst. Wüstner wurde deutlich, verwies insbesondere auf politische Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte, welche für die heutigen Mängel in der Bundeswehr verantwortlich seien.

"Die eigentliche Zeitenwende, die erfolgte ja mit der Annexion der Krim 2014", so der Oberst über die russische Besetzung der ukrainischen Halbinsel. Damals habe es viele mahnende Worte gegeben, der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) habe von einer "Welt aus den Fugen" gesprochen. Hinzu kamen Krieg im Donbass und in Syrien, wo Putin russische Waffensysteme getestet habe. Der Fokus habe sich jedoch nicht auf Bündnis- und Landesverteidigung verschoben. Warum? Wüstner gab die Antwort selbst: "Weil die Mehrheit politisch noch der Auffassung war: Es kann nicht sein, was nicht sein darf." Damals nicht umgesteuert zu haben, sei ein "fataler Fehler". Und überhaupt: "Grundsätzlich fehlt der politische Wille."

André Wüstner (Mitte) beschrieb bei "Anne Will" den schlechten Zustand der Bundeswehr. Die wahre Zeitenwende habe bereits 2014 stattgefunden. (Bild: ARD)
André Wüstner (Mitte) beschrieb bei "Anne Will" den schlechten Zustand der Bundeswehr. Die wahre Zeitenwende habe bereits 2014 stattgefunden. (Bild: ARD)

Soweit der Blick in die Vergangenheit, doch André Wüstner war es wichtig, die Bedeutung der Zukunft zu unterstreichen. "Die Frage ist: Verstehen es jetzt alle oder fängt man wieder an zu träumen?" Seiner Meinung nach formuliert Verteidigungsminister Boris Pistorius zumindest schon mal die richtigen Worte.

Doch ein Jahr nach der proklamierten Zeitenwende sei die Beschaffungslage laut der Wehrbeauftragten Eva Högl noch schlechter als zuvor. Mit dieser Aussage konfrontierte Anne Will Ralf Stegner (SPD), MdB und Mitglied im Auswärtigen Ausschusses. "Dass wir noch schlechter dastehen, hängt ja auch daran, dass Material geliefert wurde im Ukraine-Krieg", erklärte der SPD-Politiker. Auch er war der Meinung: "Wir können auch ehrlich gesagt 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu Amerika sagen: Übernehmt ihr unsere Verteidigung."

Er selbst - als Vertreter des linken SPD-Flügels - habe dem Sondervermögen für die Bundeswehr zugestimmt. Außerdem habe er den Eindruck, dass Boris Pistorius Veränderungen anstößt. Aber: "Das geht nicht von heute auf morgen." Für ihn sei das "auch keine Aufrüstung, sondern eine Stärkung der Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit". Bei diesen Worten schüttelte Wüstner den Kopf. Für Stegner gab es noch mehr Gegenwind: Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München, sprach in Bezug auf die SPD sogar davon, die Partei habe historisch einen "kaputten Panzer-Pazifismus" vertreten.

SPD-Politiker Ralf Stegner versuchte, der Kritik an seiner Partei bezüglich des Umgangs mit der Bundeswehr etwas entgegenzusetzen. (Bild: ARD)
SPD-Politiker Ralf Stegner versuchte, der Kritik an seiner Partei bezüglich des Umgangs mit der Bundeswehr etwas entgegenzusetzen. (Bild: ARD)

Das wollte Ralf Stegner so nicht stehen lassen. "Die Verteidigungsminister der letzten 16 Jahre waren keine Sozialdemokraten sondern Christdemokraten", so der SPD-Mann. Es sei "ein bisschen verkürzt", der SPD den schlechten Zustand der Bundeswehr anzuhängen.

Aber Wüstner legte nach und zitierte erneut die Wehrbeauftragte Högl, die "ein katastrophales Zeugnis für die Regierungskoalition nach über einem Jahr Krieg in Europa" ausstellte. Wenn der politische Wille vorhanden gewesen wäre, hätte man bereits im letzten Jahr begonnen, Munition zu bestellen. Stattdessen würde man so verfahren wie vor dem Krieg in der Ukraine. Die Zeitenwende müsse in den Köpfen aller ankommen, es greife zu kurz, das nur auf die Bundeswehr zu reduzieren. Denn: Nichts werde wieder so werden, wie es war.