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Campino: "Es ist eine Verblendung und eine Ignoranz von uns, dass wir dachten, die Welt sei friedlich"

In einer ARD-Dokumentation erinnert sich Campino an Reisen seiner Band in zahlreiche autokratische Länder. "Ob es nun die DDR war, Polen, Kuba oder später Myanmar und Tadschikistan. Wir setzten uns immer zum Ziel, die Polizei ein bisschen an der Nase herumzuführen. Vor allem aber wollten wir die Leute dort durch Präsenz, Loyalität und Solidarität stärken." (Bild: Tereza Mundivola / Shotview Artists)

"Es ist bis aufs Mark erschütternd, dass wir von Putin in einem Zeitraum von 48 Stunden wieder um 50 Jahre zurückkatapultiert worden sind." Toten-Hosen-Campino zeigt sich in einem Interview tief bewegt von den Ereignissen der vergangenen Wochen.

"Auswärtsspiel - Die Toten Hosen in Ost-Berlin" ist eine neue 75-minütige Dokumentation überschrieben, die an das erinnert, was Campino heute "einen der wichtigsten Momente der Bandgeschichte" nennt. Damals, vor fast 40 Jahren, hatte sich die noch unbekannte Band Die Toten Hosen in den Kopf gesetzt, in die DDR zu fahren und dort ein Konzert zu geben. Der Film von Martin Groß, den das Erste am Mittwoch, 13. April, um 22.50 Uhr ausstrahlt, lässt die Beteiligten von damals zu Wort kommen. Zuvorderst natürlich auch Campino selbst, Frontmann der Toten Hosen.

Im Interview mit der Nachrichtenagentur teleschau erinnert sich Campino darüber hinaus auch an weitere gewagte Reisen der Band in der Vergangenheit: "Wir waren in einigen autokratischen Ländern. Ob es nun die DDR war, Polen, Kuba oder später Myanmar und Tadschikistan. Wir setzten uns immer zum Ziel, die Polizei ein bisschen an der Nase herumzuführen. Vor allem aber wollten wir die Leute dort durch Präsenz, Loyalität und Solidarität stärken."

Auch in Peking sei es der Band erst vor wenigen Jahren noch gelungen, abseits eines normalen Konzerts in die Stadt zu fahren und in einem Punk-Club zu spielen. "Solche Aktionen bergen immer ein gewisses Risiko, aber es stand stets in Relation zu dem, was wir erreichen wollten. Momente wie diese haben unserer Band immer einen Sinn gegeben."

"Sicher ist es geboten, in einer Art Alarmbereitschaft zu leben oder zumindest in einer Wehrfähigkeit, die wir uns über Jahrzehnte nicht vorstellen konnten", sagt Campino. (Bild: 2019 Getty Images/Joshua Sammer)
"Sicher ist es geboten, in einer Art Alarmbereitschaft zu leben oder zumindest in einer Wehrfähigkeit, die wir uns über Jahrzehnte nicht vorstellen konnten", sagt Campino. (Bild: 2019 Getty Images/Joshua Sammer)

"Wir müssen erkennen, wie schnell ein großer Machthaber Unheil über die Welt bringen kann"

Im Sommer gehen die Toten Hosen auf große Stadiontournee. Schon jetzt erschien mit "Scheiß Wessis" die neue Single der Band, Marteria veröffentlichte parallel dazu "Scheiß Ossis". Thema jeweils: die Spaltung der Gesellschaft von heute basierend auf der Spaltung der Länder von einst.

Tief bewegt blickt Campino demnach auch auf die dramatischen Ereignisse in der Ukraine: "Es ist bis aufs Mark erschütternd, dass wir von Putin in einem Zeitraum von 48 Stunden wieder um 50 Jahre zurückkatapultiert worden sind. Dass wir alte Traumata spüren, von denen wir dachten, sie lägen längst hinter uns. Dass vieles von unserer Grundeinstellung plötzlich auf den Kopf gestellt ist." Man habe es lange für "idiotisch" gehalten, Geld für Rüstung auszugeben und eigentlich gelernt, dass ein Miteinander in jedem Fall besser ist als ein Gegeneinander. "Und all diese Erkenntnisse scheinen plötzlich nicht mehr zu stimmen. Ein einziger Despot hat das erreicht, und er hat es über Jahre vorbereitet. Wir müssen nun erkennen, wie schnell ein großer Machthaber Unheil über die ganze Welt bringen kann."

Es sei, räumt Campino ein, daher durchaus geboten "in einer Art Alarmbereitschaft zu leben oder zumindest in einer Wehrfähigkeit, die wir uns über Jahrzehnte nicht vorstellen konnten". Dennoch erinnert der 59-Jährige auch daran, dass Kriege, Geltungssucht und Machthunger die Menschheit schon seit jeher begleiten. "Wir haben das offensichtlich nicht abstellen können, nur weil wir irgendwann gelernt haben, mit Messer und Gabel zu essen."

Immer und überall habe es Kriege der härtesten Art und Weise gegeben. "Es ist eine Verblendung und eine Ignoranz von uns, dass wir über Jahre dachten, die Welt sei friedlich und normal. Dabei wurde Aleppo vor unseren Augen zerschossen." Und auch bei der Fluchtbewegung 2015 habe jedem klar sein müssen, dass "die Dinge in eine Schieflage geraten sind". "Aber auch in diesem Moment dachten wir nur an uns selbst und hatten als größtes Problem: Wie gehen wir mit den Geflüchteten um? Die Ursachen waren schon damals für uns zweitrangig."

Zweimal wagten sich die Toten Hosen über die Grenze und spielten Konzerte in der DDR. (Bild: SWR/ Holm Friedrich)
Zweimal wagten sich die Toten Hosen über die Grenze und spielten Konzerte in der DDR. (Bild: SWR/ Holm Friedrich)

250.000 Euro für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen

Die Toten Hosen unterstützen darüber hinaus das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Seit einigen Wochen kann man im Fanshop der Band ein Solidaritäts-T-Shirt kaufen. Wenige Tage nach Verkaufsstart avancierten die Kleidungsstücke zum Verkaufsrenner und ließen die Spendensumme auf 60.000 Euro ansteigen. Kurzerhand entschieden die Toten Hosen, den Erlös auf 120.000 Euro zu verdoppeln. Das Interesse an den Shirts blieb indes weiter hoch: Nach Angaben der Band kamen bis dato 250.000 Euro zusammen.