CDU in der „Brandmauer-Klemme“ - „Völlig abstruse“ Lage in Thüringen: Experte bringt „Ramelow-Option“ ins Spiel

Der Thüringer AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke und Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) am Wahlabend<span class="copyright">Michael Kappeler/dpa</span>
Der Thüringer AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke und Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) am WahlabendMichael Kappeler/dpa

Regiert in Thüringen bald eine Koalition aus CDU, BSW und Linken? Der Darmstädter Politologe Christian Stecker hält dieses Szenario für „völlig abstrus“. Um die AfD von der Macht auszuschließen, bringt der Experte jetzt eine andere Variante ins Spiel.

FOCUS online: Herr Stecker, wie haben Sie den gestrigen Wahlabend erlebt?

Christian Stecker: Ich war von den Ergebnissen nicht überrascht. Dass die AfD in Thüringen und Sachsen um die 30 Prozent einfahren, die Ampel-Parteien abrutschen und das Bündnis Sahra Wagenknecht stark abschneiden würde – das hatten Demoskopen prophezeit. Symbolisch wichtig ist, dass die CDU in Sachsen stärkste Kraft geworden ist.

Als Politologe haben Sie sicher einige Schlüsse aus den Landtagwahlen im Osten gezogen.

Stecker: Ja. Die AfD verfügt inzwischen über eine verhärtete Anhängerschaft – in Sachsen, Thüringen und vermutlich bald auch in Brandenburg. Diese Anhängerschaft teilt zwar nicht alle rechtsradikalen Positionen der Partei - wohl aber andere Ansichten, zum Beispiel in Bezug auf Migration oder Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg.

Die Anhängerschaft der AfD nutzt die Partei außerdem als Projektionsfläche für ihre Unzufriedenheit mit der Ampel-Regierung.

Und über die AfD hinaus?

Stecker: Habe ich vor allem eine Erkenntnis. Dass es der politischen Spitze offenbar schwerfällt, neue Regierungsoptionen in Erwägung zu ziehen.

Was meinen Sie damit?

Stecker: Aktuell überlegt man schlafwandlerisch, noch größere Unterschiede zwanghaft in ein Koalitionskorsett zu pressen. Dabei könnte man über neue Formate zumindest nachdenken – zum Beispiel Minderheitsregierungen mit flexiblen Mehrheiten oder sogenannte Agree-to-disagree-Klauseln.

Bestimmte Themen werden so vom Einigungszwang ausgenommen, die Suche nach alternativen Mehrheiten ist erlaubt. Die Parteien in Sachsen und Thüringen könnten so inhaltliche Unterschiede besser verarbeiten als in Koalitionskorsetten, in denen sie sich von einem schwer verdaulichen Kompromiss zum nächsten hangeln.

„Demokratietheoretisch ist die stärkste Kraft praktisch nichts wert“

Die AfD ist in Thüringen mit rund 33 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Spitzenkandidat Björn Höcke sagte am Wahlabend: „Wir sind bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen.“ Wird daraus etwas?

Stecker: Definitiv nicht. Das ist ein politischer Stunt, das so zu sagen. Demokratietheoretisch ist die stärkste Kraft praktisch nichts wert, so hart das klingt.

Das müssen Sie genauer erklären.

Stecker: Es mag schon sein, dass die Wähler die stärkste Partei in der Regierung sehen möchten. Das ist aber ein Missverständnis. In einer Demokratie geht es darum, Mehrheiten zu bilden. Das gelingt einer Partei entweder dadurch, dass sie die absolute Mehrheit der Stimmen beziehungsweise Mandate einfährt. Oder durch die Zusammenarbeit mit anderen Parteien.

Beides schafft die AfD nicht. Alle anderen Parteien haben eine Koalition mit der Rechtsaußen-Partei ausgeschlossen. BSW, CDU und andere werden einen Teufel tun, Herrn Höcke den Weg in die Regierung zu ebnen.

Welche Regierungskonstellationen sind in Sachsen und Thüringen denn realistisch?

Stecker: Dazu muss man sagen: Die rechnerisch möglichen Konstellationen sind alle absurd. Wäre ich vor zehn Jahren ausgewandert und jetzt wieder nach Deutschland zurückgekommen, würde ich mir die Augen reiben.

Dann sagen Sie mal, was auf die Thüringer und Sachsen zukommt.

Stecker: In Sachsen halte ich ein Bündnis aus CDU, BSW und SPD für wahrscheinlich. In Thüringen wird es wilder. Da fehlt der Konstellation CDU-BSW-SPD nach aktuellen Berechnungen ein Sitz. Vorstellbar wäre: BSW, SPD und CDU plus Ramelow, der seine Stimme zur Verfügung stellt. Quasi als Dienst an der Demokratie.

„Eine Zusammenarbeit der CDU mit BSW und Linker birgt große Risiken“

Oder eine Koalition der CDU mit dem BSW und der Linken.

Stecker: Das halte ich für völlig abstrus. Die CDU müsste dazu den Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linken brechen. Was übrigens auch bei der Ramelow-Option der Fall wäre. Da könnte man aber noch mit seiner Person argumentieren – eigentlich Sozialdemokrat, nie Mitglied der SED gewesen.

Die Thüringer CDU steckt also im Dilemma.

Stecker: Ja. Hier lohnt sich auch ein Blick auf die Analyse des politischen Gegners. Höcke hofft, dass sich die CDU auf ein ideologisch völlig überdehntes Bündnis einlässt. Und dass diese Koalition an den internen Widersprüchen scheitert. Völlig falsch liegt er damit nicht: Eine Zusammenarbeit der CDU, egal ob mit dem BSW oder der Linken, birgt große Risiken.

Welche wären das im Fall der Linken?

Stecker: Mindestens ein großer Reputations- und Vertrauensverlust, da die CDU ihren Unvereinbarkeitsbeschluss zuletzt noch so stark verteidigt hat. Der Beschluss selbst ist meines Erachtens für Thüringen fragwürdig. Ihn aber jetzt aufzukündigen, würde wirken wie Macht-Opportunismus. Inhaltlich passt auch eine ganze Menge Papier zwischen CDU und Linke, da wären große Gräben zu überwinden – in der Sozial-, Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik zum Beispiel.

Und beim BSW?

Stecker: Es besetzt einen politischen Raum, der bisher verwaist war. Das BSW kombiniert linke Sozialpolitik mit stark konservativen Forderungen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik. Es gibt einige Schnittmengen: die Begrenzung von Flüchtlingen und Migration, ein klares Nein zum Gendern. Für die CDU wäre ein Bündnis mit der Wagenknecht-Partei zumindest einfacher zu handhaben als eine Zusammenarbeit mit der Linken.

Wenn die CDU jetzt – vor allem mit Blick auf Ramelow und die Linke einknickt: Wirft das nicht generelle Fragen zur Brandmauer auf?

Stecker: Die CDU-interne Problematik wird prekär. Dass es einen Unvereinbarkeitsbeschluss gibt und so stark daran festgehalten wird, hat auch damit zu tun, dass es in der Partei Personen gibt, die sich eine Zusammenarbeit mit der AfD vorstellen könnten.

Fällt die Brandmauer nach links, wird das den Druck auf die Brandmauer nach rechts erhöhen. Der Grundfehler der Spitzenleute ist meiner Meinung nach, kategorisch in Brandmauern und Unvereinbarkeitsbeschlüssen zu denken. Ich halte es zwar für geboten, der AfD keinen Zugang zur Exekutive zu gewähren.

Aber: Eine Brandmauer mit sehr starkem Fundament – keine Regierungsbeteiligung für Extremisten – würde es trotzdem ermöglichen, Mehrheiten für gemäßigte konservative Positionen, die mit Hilfe der AfD zustande kommen, zu nutzen.

„Das sollte berücksichtigt werden, wenn man Demokratie ernst meint“

Dazu kommt: Wenn man die AfD weiterhin ausgrenzt, fühlen sich womöglich 33 Prozent der Thüringer und 31 Prozent der Sachsen hintergangen.

Stecker: Das stimmt. 30 Prozent der Wähler in Thüringen und Sachsen sollten Einfluss auf thematische Entscheidungen haben. Es gibt eine klare, konservative Mehrheit für eine härtere Migrationspolitik. Diese rund 30 Prozent der Wählerstimmen sollten zumindest bei einzelnen Entscheidungen berücksichtigt werden, wenn man Demokratie ernst meint.

„Wir sind das Bollwerk“, sagte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann am Wahlabend. Die CDU sieht sich als „letzte echte Volkspartei“. Empfinden Sie das genauso?

Stecker: Empirisch hat er recht, weil die CDU in Sachsen und Thüringen große Wählerschichten ansprechen konnte – im Gegensatz zur SPD. Die CDU hat versucht, Wähler aus dem demokratischen Spektrum abzuziehen. Nach dem Motto: Wählt uns, wir sind die Einzigen, die glaubhaft vertreten können, dass die AfD nicht stärkste Kraft wird.

Rund die Hälfte der CDU-Wähler in Thüringen und Sachsen entschied sich laut Infratest dimap nur für die CDU, damit die AfD nicht zu viel Einfluss bekommt. Echte Überzeugung sieht anders aus.

Stecker: Das ist klassisches strategisches Wählen. In Thüringen war das Kind seit Monaten in den Brunnen gefallen. Dass die AfD stärkste Kraft wird, war abzusehen. Was in meinen Augen viel zu wenig diskutiert wird, sind Optionen, um herauszufinden, wer eigentlich die größte Unterstützung in der Bevölkerung hat. Unser zerrüttetes demokratisches System verlangt nach neuen Regeln.

Wie würde so etwas denn genau aussehen?

Stecker: Wie jede Politbarometer-Umfrage könnte auch das Wahlsystem die Wähler bitten, die Parteien in eine Reihenfolge zu bringen. Damit kann man feststellen, wer mit Blick auf alle Präferenzen die größte Unterstützung hat.

Damit könnte der „echte“ Wahlsieger gefunden werden . Dies wäre aktuell auch in Thüringen die CDU. Sie hätte einen klaren Regierungsauftrag und könnte dann im proportional nach Erstpräferenzen zusammengesetzten Parlament flexible Mehrheiten bilden.

Von der Theorie zurück zur Praxis: Was bedeuten die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen für die anderen Parteien?

Stecker: Für die Ampel-Parteien ist das Ergebnis ein desaströses Signal. Die Wahlergebnisse zeigen die schwere Vertrauenskrise, in der die Regierungsparteien gerade stecken.

„Der ostdeutsche Wähler ähnelt einem Konsumenten, der spontan entscheidet, was er kauft“

Bei den Grünen flossen sogar Tränen.

Stecker: Man darf in der ganzen polarisierten Debatte nicht vergessen, dass so gut wie jeder Politiker das Ziel hat, seine Version von Gemeinwohl zu vertreten und dass man darüber uneins sein darf.

Die Grünen wurden massiv angefeindet, zum Teil auch von CDU-Politikern. Das ist eine besorgniserregende Zuspitzung innerhalb des Diskurses im demokratischen Spektrum. Man muss nicht einer Meinung sein, aber sollte seinem demokratischen Gegenüber nicht alle Kompetenz und guten Willen absprechen. Hass zu schüren, ist völlig inakzeptabel.

In Thüringen schafft es die AfD in jedem Fall auf eine Sperrminorität. Müssen sich andere Parteien jetzt zwangsweise stärker inhaltlich mit ihr auseinandersetzen?

Stecker: Sie müssen sich auf jeden Fall damit auseinandersetzen, dass bestimmte Dinge - zum Beispiel Verfassungsänderungen und die Wahl von Verfassungsrichtern - ohne die AfD nicht mehr möglich sind. Und natürlich kann es auch sein, dass die Rechtsaußen-Partei ihre Stellung ausnutzt, um über eigene Inhalte zu verhandeln.       

Sehen wir in Sachsen und Thüringen die Anfänge eines bundesweiten Trends?

Stecker: Das würde ich nicht sagen. Es gibt ostdeutsche Besonderheiten – die Verbindung zu Parteien ist schwach, Wähler orientieren sich kurzfristig. Der ostdeutsche Wähler ähnelt einem Konsumenten, der sich spontan entscheidet, was er kauft.

Die starke Ablehnung von Migration oder die Skepsis gegenüber politischen Eliten oder der Ukraine-Hilfe, da unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche stark voneinander. Zu stark, als dass man von einem gesamtdeutschen Trend sprechen könnte, der jetzt begonnen hat.