CEO Tim Höttges im Interview - „China und USA tun es“: Telekom-Chef nennt Mega-Versäumnis der deutschen Politik
Trotz Kritik an den regulatorischen Rahmenbedingungen in Europa führt Tim Höttges die Deutsche Telekom zu neuen Höhen. Seine offenen Worte und seine klare Vision für das Unternehmen zeigen, wie man mit internationalisierten Strategien und mutigen Investitionen erfolgreich sein kann.
Numbers don’t lie: Tim Höttges ist derzeit Deutschlands erfolgreichster Vorstandschef. Über die zehn Jahre seiner Amtszeit hat er die Aktienrendite der Deutschen Telekom, also die Kurssteigungen der Börse plus die ausgezahlten Dividenden, um 192,5 Prozent gesteigert. Zum Vergleich: Die Aktienrendite des Dax betrug im selben Zeitraum nur 94,3 Prozent.
Auch die gestrigen Quartalszahlen zeigten ein Unternehmen im Olympia-Format: Der bereinigte operative Gewinn stieg konzernweit um 7,8 Prozent und in Europa sogar um 8,9 Prozent. Es war das größte Plus der Firmengeschichte und das 26. Quartal in Folge mit einem Gewinnanstieg.
Gestern Abend stellte sich Tim Höttges im neuen Pioneer-Format „Floating Ideas – It’s time for the big talk” auf der PioneerTwo den kritischen Fragen, die auch an einen wie ihn zu stellen sind. Das Gespräch in Gänze – Auftakt einer Gesprächsreihe mit erfolgreichen Wirtschaftsführern und intellektuellen Geistesgrößen unserer Zeit – wird am Wochenende als Pioneer Cover Story erscheinen, am Montag als Video und heute Morgen bereits in einer Kurzform.
Pioneer: Heute bestreitet der US-Markt 70 Prozent der Umsätze und des Gewinns der Deutschen Telekom AG. Zünden Sie Ihrem Vorvorgänger Ron Sommer jeden Morgen eine Kerze dafür an, dass er gegen viele Widerstände den Vorgänger von T-Mobile US, das Unternehmen Voice Stream, akquiriert hat?
Tim Höttges: Die Telekom hat Ron Sommer viel zu verdanken. Aber in Amerika hat er uns einen Torso hinterlassen, wenn ich das mal so ehrlich sagen darf.
„Europa hat eine falsche Regulierung“
Pioneer: Aber es war der Nukleus für die heute hochprofitable Beteiligung in Amerika.
Höttges: Als ich Vorstandsvorsitzender wurde, hieß es: Bitte lösen Sie dieses Amerika-Abenteuer auf und verkaufen Sie dieses Asset. Wir haben uns das dann angeguckt und dann extrem viel Geld in den USA investiert, weil das der beste Telekommunikationsmarkt der Welt ist.
Pioneer: Und Europa ...
Höttges: … ist zu fragmentiert, Europa hat eine falsche Regulierung. Europa hat viele Fehler gemacht in der Struktur. Das ist eine Wertvernichtungsmaschine gewesen.
Pioneer: Wie rentabel ist heutzutage der amerikanische Kunde im Vergleich zum europäischen?
Höttges: Mindestens doppelt so hoch.
Pioneer: Warum ist das so?
Höttges: In Amerika leben rund 330 Millionen Menschen. Wir haben einen Markt, wo auf der selben Telekommunikationsinfrastruktur drei bis vier Spieler laufen. Das heißt, der durchschnittliche Betreiber hat etwa 100 Millionen Kunden auf einer Maschine. Auf dem europäischen Markt kommen durch Regulierungen auf 27 Märkte jeweils drei oder vier Anbieter. Dadurch liegt die durchschnittliche Auslastung der Maschine momentan nicht bei 100 Millionen, sondern bei 1,5 Millionen Kunden.
Das bedeutet: In Amerika bringt der durchschnittliche Kunde einen monatlichen Umsatz von 48 US-Dollar. In Deutschland liegen wir momentan bei 12 Euro.
„Je mehr Wettbewerber ich habe, umso besser funktioniert eine Industrie“
Pioneer: Gemessen an der Einwohnerzahl ist der EU-Binnenmarkt mit rund 450 Millionen Menschen größer als die USA.
Höttges: Aber es gibt keinen europäischen Binnenmarkt, auch wenn wir das so deklarieren. Ich war gerade in Paris mit dem Auto und an der Grenze flog ich dann aus dem Netz der Deutschen Telekom raus. Warum eigentlich? Das hat nichts mit der Telekom zu tun. Das hat mit juristischen Rahmenbedingungen und steuerlichen Implikationen zu tun.
Pioneer: Warum wird in Europa nicht einfach nach dem amerikanischen Vorbild der Telekommunikationsmarkt konsolidiert?
Höttges: Hier gilt ein anderes Paradigma: Je mehr Wettbewerber ich habe, umso besser funktioniert eine Industrie. Das ist das Grundparadigma, das wir momentan in Europa haben. Aber in einer Welt der Plattformökonomie, wo Software skaliert, wo Infrastruktur skaliert, wo sie enorme Investitionen haben, funktioniert das nicht. Wenn sie diese Maschine nicht hochgradig auslasten, können sie keine guten Konsumentenpreise anbieten. Aber dieses Paradigma der Plattformökonomie ist in der europäischen Politik und der Regulierung nicht angekommen.
Pioneer: Viele europäische Telekommunikationsfirmen haben hart zu kämpfen. Die Telekom ist durch ihre Amerika-Beteiligung besser dran. Warum ändert die Politik nicht die Rahmenbedingungen?
Höttges: Die Politik hat ein Problem damit, Größe zuzulassen. Wenn wir eine Digitalwirtschaft in Europa schaffen wollen, die auf Augenhöhe mit den Amerikanern spielt, dann müssen wir Skalierung ermöglichen. Und das gilt über die europäischen Grenzen hinweg.
„ Weil ich die Deutsche Telekom bin...“
Pioneer: Warum ziehen Sie mit der Telekom angesichts der schwierigen Bedingungen dann nicht einfach in die USA um, wo sie sowieso rentabler wirtschaften?
Höttges: Weil ich die Deutsche Telekom bin und die Deutsche Telekom ist ein zutiefst in Deutschland und in Europa verwurzeltes Unternehmen. Die Vision für die Telekom ist ein Unternehmen, das in der westlichen Welt der Ausrüster für die digitale Infrastruktur ist.
Pioneer: Ihre europäische Erfahrung ist prototypisch. Wenn wir auf den relativen Abstieg von Deutschland schauen, wo ist das Land falsch abgebogen?
Höttges: Der Neoliberalismus, den wir alle gepredigt haben, also die Industrie wird das schon irgendwie lösen und der Markt sortiert das für sich, der hat Jahrzehnte gut funktioniert. Dann kamen die staatlich subventionierten Modelle im Ausland, in China und in den USA. Machen wir uns mal nichts vor, diese ganze Internet-Ökonomie, jetzt die wertvollste der Welt, ist ein von der amerikanischen Militärwirtschaft subventioniertes Geschäftsmodell gewesen. Und das haben wir verpasst.
„Das tun die Chinesen und auch die Amerikaner ganz bewusst“
Pioneer: Sie sagen, der Staat hat also schon eine Aufgabe: Er soll Wertschöpfung möglich, nicht kaputt machen. Richtig?
Höttges: Ich glaube, dass wir staatliche Eingriffe und auch Regulierung brauchen. Ich will nicht den Wilden Westen, in dem jeder macht, was er möchte. Wir müssen gezielt in bestimmte Industrien eingreifen und fördern. Das tun die Chinesen und auch die Amerikaner ganz bewusst.
Pioneer: Egal ob Harris oder Trump die Wahl gewinnt: Wir dürfen damit rechnen, dass unsere amerikanischen Freunde sehr stark an sich denken werden. Müssen wir auch zuerst an Europa denken?
Höttges: Es wäre naiv, wenn wir das nicht tun würden.
„Politiker kämpfen gegen ein amorphes System“
Pioneer: Glauben Sie, die deutschen Politiker sind dafür zu zaghaft?
Höttges: Die Politiker, die ich treffe, haben alle das Herz am richtigen Fleck. Das sind alles gute Demokraten und das sind alles Menschen, die irgendwo das Richtige für uns als Bürger tun wollen. Das Problem ist die Dysfunktionalität unseres Systems.
Pioneer: Was meinen Sie damit?
Höttges: Die Politiker kämpfen gegen ein amorphes System. Wir haben ein demokratisches System geschaffen, in dem jeder sagen kann, was er möchte, wo aber nicht mehr das Gemeininteresse, sondern das Ich-Interesse im Vordergrund steht. Der Preis, den wir bezahlen, ist die fehlende Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft.
Pioneer: Demokratie und Wachstum gehen aber durchaus zusammen – früher auch in Deutschland und heute in Amerika.
Höttges: Sie müssen zusammen gehen, tun es aber derzeit nicht in Deutschland.
Pioneer: Herr Höttges, Sie stehen seit zehn Jahren an der Spitze der Deutschen Telekom. Der Aufsichtsrat hat gerade ein Verfahren beschlossen, mit dem ein Nachfolger gesucht wird. Was denken Sie darüber?
Höttges: Der ganze Prozess findet mit meiner Beteiligung statt. Aber es sollte kein Tim-Höttges-Klon sein. Es kann zum Beispiel auch jemand sein, der nicht Deutsch als Muttersprache spricht.
„ Ich habe richtig Spaß in meinem Job“
Pioneer: Vielleicht also ihr Vorstandsmitglied aus Indien, Srinivasan Gopalan, derzeit der Deutschland-Chef der Telekom?
Höttges: Hervorragender Mann. Wir haben aber auch tolle Frauen im Team. Wir haben internationale Manager im Konzern. Ich habe mehrere Namen im Kopf.
Pioneer: Aber?
Höttges: Ich habe richtig Spaß in meinem Job. Wir haben Rekordergebnisse, wir haben den höchsten Aktienkurs seit 2000 und wir haben momentan allein in den letzten sechs Monaten für zwölf Milliarden Unternehmen gekauft, die wir jetzt verantwortungsvoll integrieren müssen. Will sagen: Ich bin ja da.
Wir haben uns unterhalten über das, was am Standort Deutschland und in Europa geschehen muss, um wieder Wachstum und Wohlstand zu produzieren. Höttges beschreibt die Deindustrialisierung des Landes – die er klipp und klar auch so benennt – und wie sie gestoppt werden kann.
Fazit: Hier spricht kein Talkshow-König und kein ökonomischer Populist, sondern ein Manager in Sorge. Der eigene Erfolg gibt ihm das Recht und die Absenderkompetenz, das zu sagen, was er denkt.