Chaos im Thüringer Landtag - „Reifeprüfung nicht bestanden“: Experte nimmt Strategie der Thüringer AfD auseinander

Jürgen Treutler, AfD-Abgeordneter und Alterspräsident während der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags.<span class="copyright">Martin Schutt/dpa</span>
Jürgen Treutler, AfD-Abgeordneter und Alterspräsident während der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags.Martin Schutt/dpa

Die AfD torpediert die konstituierende Sitzung des Thüringer Landtags. Politikwissenschaftler Oliver Lembcke hält das Vorgehen für „Obstruktionspolitik“. Die Reifeprüfung des Parlaments gilt für ihn damit nicht bestanden.

Der Thüringer Landtag ist am Donnerstag das erste Mal nach der Landtagswahl zusammengetreten – arbeitsfähig ist er aber zunächst nicht. Denn die AfD torpediert wie erwartet die Sitzung mit allen Mitteln.

Die in Abgeordneten der in Thüringen als rechtsextrem eingestuften Partei haben dabei einen Trumpf in der Hand: Sie stellen den Alterspräsidenten Jürgen Treutler . Nach Recherchen der „Welt“ hat die AfD ihn deshalb für die Landtagswahl aufgestellt, damit er dieses Amt übernehmen kann.

Treutler leitet die Sitzung so lange, bis ein Landtagspräsident gewählt ist. Und dieser Posten würde nach alter Tradition der AfD als stärkste Fraktion zustehen. Der Streit mit den anderen Fraktionen entzündet sich nun an der Tagesordnung und der Geschäftsordnung. Denn das beeinflusst die Wahl des Landtagspräsidenten.

Die AfD will diesen nach den Regeln der Geschäftsführung des vorherigen Landtags wählen. Die anderen Fraktionen wollen eine neue Geschäftsordnung beschließen, um das alleinige Vorschlagsrecht der AfD für den Landtagspräsidenten zu streichen und ihn damit zu verhindern. Treutler ist allerdings der Ansicht, dass erst nach der Wahl des Landtagspräsidenten über eine neue Geschäftsordnung abgestimmt werden kann.

Oliver Lembcke ordnet das Parlaments-Chaos ein. Er hat in Thüringen als Politikwissenschaftler gearbeitet und ist aktuell an der Ruhr-Universität Bochum tätig.

„In Thüringen hätte es eine Reifeprüfung für das parlamentarische Miteinander sein können“

FOCUS online: Herr Lembcke, überrascht Sie, was im Thüringer Landtag passiert?

Oliver Lembcke: Im Vorfeld konnte man schon die Befürchtung haben, dass der Streit um die Wahl des Landtagspräsidenten zu einem neuen Thüringer Theater wird. Das hat sich leider vollauf bestätigt. Dabei spielt der Alterspräsident Treutler von der AfD die Hauptrolle. Normalerweise ist die konstituierende Sitzung eines Parlaments ein Selbstläufer. In Thüringen hätte es eine Reifeprüfung für das parlamentarische Miteinander sein können. Leider hat es nicht lang gedauert, bis die Sitzung zur Farce wurde. 

Wie schätzen Sie das Vorgehen von Alterspräsident Treutler ein?

Lembcke: Aus dem Demokratieprinzip und dem Rang als Verfassungsorgan folgt unter anderem das Recht des Landtages, sich in seiner konstituierenden Sitzung per Mehrheit über neue Verfahren seiner Organisation zu verständigen. Und selbstverständlich können von den Fraktionsvorsitzenden und den parlamentarischen Geschäftsführern jederzeit Anträge gestellt werden, die vom Alterspräsidenten unverzüglich zu behandeln sind. Dessen Rolle beschränkt sich auf eine Art Hebammenleistung, damit das neue Parlament möglichst schnell und unbeschadet handlungsfähig wird. Unter Treutlers Leitung vollzieht sich das Gegenteil.

„Machtmittel, das er über jedes Maß hinaus ausnutzt, ist die Tagesordnung“

Welches Ziel verfolgt die AfD zusammen mit Treutler?

Lembcke: Der Alterspräsident nutzt die Bühne, um als Hüter der Geschäftsordnung aufzutreten. Das Machtmittel, das er über jedes Maß hinaus ausnutzt, ist die Tagesordnung. Bereits im Zuge seiner Eröffnungsrede trat die Absicht immer klarer zutage, die Prozeduren, vor allem jener der Geschäftsordnung, in pseudo-regelgerechter Weise zu missbrauchen. Das ist legalistische Obstruktionspolitik.

Die Strategie besteht darin, den Abgeordneten von CDU, SPD, BSW und Linken das Recht vorzuenthalten, Anträge zur Geschäftsordnung zu stellen. Denn nur zu genau weiß man auf Seiten der AfD, dass die Mehrheit mit ihren Anträgen das Ziel verfolgt, in der Geschäftsordnung klarzustellen, dass Kandidaten für die Wahl zum Landtagspräsidenten nicht nur von der stärksten Fraktion, sondern sehr wohl auch aus der Mitte des Parlaments benannt werden können.

„Sie haben Treutler regelrecht die Leviten gelesen“

Wie sinnvoll ist das Vorgehen der anderen Fraktionen?

Lembcke:  Die Fraktionen haben zunächst eher situativ agiert und mittels Zwischenrufen interveniert, um Treutler dazu zu bringen, sich mit den Anträgen zu befassen. Erkennbar war der Wille in den Fraktionen von CDU, BSW, Linke und SPD, die Form wahren zu wollen. Alle Fraktionen außer der AfD hatten ein Interesse daran, ein Bild abzugeben, das der Bedeutung des Moments und der Institution würdig ist – und damit das AfD-Vorgehen noch deutlicher zu kontrastieren.

Als die parlamentarischen Geschäftsführer dann das Wort erhalten haben, haben sie Treutler mit ihren Beiträgen zur Rechtslage regelrecht die Leviten gelesen. Den Umständen entsprechend ist diese Art, die Haltung zu bewahren, vielleicht politisch klug, um den Schwarzen Peter dort zu lassen, wo er hingehört.

Wie wird es nun weitergehen?

Lembcke: Treutler und die AfD haben die Reifeprüfung nicht bestanden. Jetzt wird das Landesverfassungsgericht eingeschaltet und der Versuch, die Abgeordnetenrechte zu beschneiden und das Selbstorganisationsrecht des Parlaments auszuhebeln, eine schallende Ohrfeige erhalten. Aber auch jetzt ist für alle klar geworden, dass die Konstitution des neuen Landtags mit einer Obstruktion durch die größte Fraktion begann. Wahlen haben Konsequenzen.