Christoph Spinner - Um mehr Leben zu retten, muss Deutschland 3 Chancen nutzen
Deutschlands Gesundheitssystem ist teuer, doch wenig effektiv und schon gar nicht digital. Dabei ließe sich für Patienten vieles verbessern. Das ist dringend notwendig, findet Christoph Spinner und nennt drei konkrete Beispiele.
Viele kennen ihn als Corona-Experten: Christoph Spinner – auch auf FOCUS online beantwortete der Infektiologe regelmäßig die drängenden Fragen zur Pandemie. Doch der Professor am Klinikum der Technischen Universität München (TUM Klinikum) treibt auch die Digitalisierung im Gesundheitswesen voran und ist Mitgestalter der Strategie zur Digitalen Transformation des TUM Klinikums.
Neue Technologien könnten in Deutschland Tausende Leben retten.Mittels Künstlicher Intelligenz (KI) lassen sich Bilder schneller analysieren und beispielsweise Tumoren erkennen. Zudem könnten viele Menschen in ihrem Alltag besser begleitet werden. Denn viele haben ihre Risikofaktoren oft nicht im Blick, wie Spinner etwa von Impfungen berichtet.
„Wir müssen uns auf die Bedürfnisse unserer Patientinnen und Patienten sowie die Funktionalitäten fokussieren und nicht einfach darauf, irgendetwas digital zu machen“, sagt Christoph Spinner, Leiter des Geschäftsbereichs Klinikbetrieb und Medizinstrategie in der Ärztlichen Direktion des TUM Klinikums, im Gespräch mit FOCUS online. Denn nur dann könne das Digitale einen Mehrwert bieten.
Zudem werde es in Deutschland am Ende vor allem um die Frage gehen: Wie können wir mit dem gleichen Geld, das wir heute ausgeben, unsere Versorgung effektiver machen? Mediziner Spinner sieht hier drei Bereiche, die Mehrwerte liefern können – damit nicht, wie im Fall des E-Rezepts und der Telematik-Infrastruktur (TI), Milliarden für wenig Effekt verbraucht werden.
3 Chancen für Deutschlands Gesundheit
1. Zentralisierung der Informationsverfügbarkeit
„Der Klassiker ist doch der Patient, der am Freitagvormittag beim Hausarzt war und am Samstag mit einer Verschlechterung in die Klinik kommt. Jegliche Dokumentation der Diagnostik vom Freitag ist in der Regel nicht verfügbar“, erklärt Spinner. Daraus folge, man müsse alles noch mal machen. Eine Zentralisierung der Informationsverfügbarkeit könnte hier Zeit sparen und der Patient könnte schneller behandelt werden. Spinner zufolge bedeute das nicht, dass die Informationen dann für alle zugänglich seien. Vielmehr sollte der Patient die Möglichkeit haben, zu steuern, welche Behandelnde worauf zugreifen können.
Ein weiteres Beispiel hierzu ist das Thema Impfen. Eine zentrale Infrastruktur, wie etwa andere Länder sie haben, würde vieles vereinfachen. Als Arzt im Krankenhaus könnte Spinner sehen: Jemand ist älter als 60, hat daher eine Empfehlung für die jährliche Grippe- und Covid-Impfung und er könnte ihn darauf hinweisen. Eine weitere Chance, die darin steckt, sei ein Patienteninterface im Sinne einer App, woraus automatisch an notwendige Untersuchungen erinnert wird.
„Wir könnten hochspezifische Präventionsangebote machen von der Dickdarmkrebsvorsorge bis hin zur Impfung“, erläutert Spinner. Impfungen seien unbestritten eine der wichtigsten biomedizinischen Interventionen. „Es gibt viele Menschen, die wir einfach nicht erreichen, weil sie nicht wissen, dass sie ein individuell erhöhtes Risiko haben.“
2. Smarte Prozesse
Spinners Einschätzung nach braucht es „eine viel stärkere prozessuale Fokussierung“ – die Abläufe müssen verbessert werden. Sprich, „solange wir immer noch mit unserer Hardware wie der elektronischen Gesundheitskarte irgendwo hinlaufen müssen, um sie einzustecken, hilft das wenig“. Statt der physikalischen Kreditkarte benutzen viele Menschen heute längst ihr Smartphone.
Spinner zieht den Vergleich mit anderen Lebensbereichen: „Denken Sie daran, wie Sie Zug fahren, fliegen. Sie checken selbst ein, Sie bekommen die notwendigen Informationen zu Ihrer Reise. Warum sollen das eigentlich nicht im Krankenhaus auch gehen, dass man prozessual diese Information bereitstellt?“ Das könnte dann so aussehen, dass der Patient Nachrichten bekommt: „Ihr Behandlungsbeginn ist in y Tagen. Denken Sie daran, dieses oder jenes mitzubringen.“ Der Mediziner ist sich sicher: „Da könnten wir riesige Mehrwerte schaffen.“
3. Medizinische Angebote neu zusammenbringen
Oft ist das medizinische Angebot nur in den Ballungsräumen ausreichend vorhanden. In neu gedachten Zusammenschlüssen (Joint Ventures) könnten unter anderem Telemedizin-Plattformen die Versorgung erleichtern. Auf dem Land ist beispielsweise die Betreuung von Menschen mit HIV oft problematisch. „Da wäre es wünschenswert, wenn Ärztinnen und Ärzte vor Ort etwa das Blut abnehmen“, erklärt der Infektiologe. Die Daten könnten dann in Behandlungszentren oder Kliniken zur weiteren Diagnostik eingesendet werden. Dann müssten Patienten beispielsweise dafür nicht extra aus Niederbayern nach München fahren.
Wir sollten die Vorteile durch Digitalisierung und KI in den Vordergrund rücken
Künstliche Intelligenz hat noch viel mehr Potenzial, Menschenleben zu retten und die Gesundheit zu verbessern. Darüber diskutierte Spinner mit vielen Fachleuten auf dem Digital Health Summit.
Ihm schweben im nächsten Schritt integrierte Versorgungsmodelle vor, in denen Patienten wechseln können zwischen vor Ort und Telemedizin. Der Mediziner mahnt: „Wir sollten uns viel stärker überlegen, was Patientinnen und Patienten brauchen und wie wir das dann auch datenschutzrechtlich abgebildet bekommen.“