Claus Ruhe Madsen im Interview - Minister über Chaos-Bahn: „Eigentlich dürften wir keine Fahrkarten mehr verkaufen“
In Schleswig-Holstein leiden Tourismus und Wirtschaft unter der maroden Bahn. Landesverkehrsminister Madsen will die Bahn zur Modernisierung zwingen: Wo keine Leistung erbracht wird, soll auch kein Geld mehr fließen.
Geschätzte Fahrpläne, klagende Mitarbeiter, Vollsperrungen: In den vergangenen Wochen hat die Deutsche Bahn eine negative Schlagzeile nach der anderen produziert. Konzernvorstand und Bund, der alleiniger Eigner des Unternehmens ist, scheinen ratlos.
Die Folgen des Chaos spürt Claus Ruhe Madsen. Der CDU-Politiker ist Landesverkehrsminister in Schleswig-Holstein. Im Interview mit FOCUS online erklärt er, wie sehr sein Bundesland unter den schwierigen Zuständen bei der Bahn leidet und wie er diese zum Umdenken bringen will.
FOCUS online: Herr Madsen, Sie sind nicht nur Verkehrsminister, sondern unter anderem auch für Wirtschaft und Tourismus zuständig. Wie sehr leiden diese Bereiche in Schleswig-Holstein unter den Problemen mit der Deutschen Bahn?
Claus Ruhe Madsen: In Schleswig-Holstein zeigen sich die Probleme wie unter einem Brennglas. Beispiel Sylt: Viele Arbeiterinnen und Arbeiter pendeln mit der Bahn auf die Insel. Funktioniert das nicht, gibt es für die Touristinnen und Touristen kein Fischbrötchen – wenn die Reisenden es überhaupt mit dem Zug in den Urlaub geschafft haben.
Oder das Beispiel Northvolt: Das Unternehmen will in unserem Bundesland eine Batteriefabrik aufbauen – die Infrastruktur der Bahn ist dem aber nicht gewachsen. Jetzt müssen zunächst Brücken ertüchtigt werden, über die bisher nur 700 Tonnen rollen dürfen. Northvolt benötigt aber 2700 Tonnen. Allgemein gibt es zu wenig Schienen, um Unternehmen die Ansiedlung zu erleichtern und sie dazu zu bringen, ihre Güter ökologisch mit der Bahn zu transportieren. Damit ist die mangelhafte Schieneninfrastruktur in Schleswig-Holstein eine echte Wachstumsbremse.
„Können eigentlich nur noch Eintritt für eine Museumsbahn verkaufen“
Warum hat Schleswig-Holstein besonders stark mit den Bahn-Problemen zu kämpfen?
Madsen: Das Schienennetz ist hier das schlechteste in ganz Deutschland. Dazu kommt die geringste Elektrifizierungsquote in Deutschland. Eigentlich dürften wir keine Fahrkarten mehr verkaufen, sondern nur noch Eintrittskarten für eine Museumsbahn. Und auch international fallen wir zurück: Bei der Fehmarnbeltquerung ist die Deutsche Bahn verantwortlich für die Erschließung des Hinterlands. Wenn man das mit der dänischen Seite vergleicht, hängen wir im Zeitplan deutlich hinterher. Bei diesem international beachteten Projekt geht es auch um das Image des Standorts Deutschland.
In diesem Sommer leiden Bahnreisende unter mehreren Vollsperrungen, unter anderem zwischen Hamburg und Berlin, was auch Menschen aus Schleswig-Holstein trifft. Ist das wirklich nur auf Fehler in der Vergangenheit und die marode Infrastruktur zurückzuführen – oder hätte es nicht andere Lösungen als eine Vollsperrung geben müssen und diese ist eine Fehlplanung der aktuell Verantwortlichen?
Madsen: Aufgrund des jahrzehntelangen Verschleißes ist die Vollsperrung leider alternativlos. Eine Sanierung im laufenden Betrieb ist nicht mehr möglich. Wenn man in einem Haus nur das Kinderzimmer renoviert, muss nicht die ganze Familie ausziehen. Wenn aber gleich mehrere Zimmer marode sind, weil man nicht ein Zimmer nach dem anderen instandgehalten hat, kommt man um einen Auszug nicht mehr herum.
Ich begrüße es, dass man jetzt diesen neuen Weg geht – um vielleicht feststellen zu können, dass es nach einer Maximalstörung des Bahnbetriebs endlich wieder maximal gut läuft. Es kommt aber nun darauf an, dass erstens die Fristen für die Sanierung eingehalten werden, zweitens der Schienenersatzverkehr reibungslos funktioniert und drittens die Hafenstandorte schienenseitig erreichbar bleiben.
Allerdings ist die Generalsanierung von 41 Korridoren in wenigen Jahren ein Großprojekt von bisher nie dagewesenen Ausmaßes, das ungeahnte Probleme mit sich bringen kann. Der dänische Verkehrsminister hat mir zum Beispiel gesagt, dass Deutschland ihn damit vor massive Probleme stellt. In Europa konzentrieren sich die Kapazitäten der ausführenden Baufirmen gerade stark auf die Deutsche Bahn – anderswo kommt es dann zu Engpässen.
Madsen will „Anreiz, für Qualität zu sorgen“
Manche sehen die Privatisierung der Bahn als Kardinalfehler. Sie auch?
Madsen: Das lässt sich schwer sagen, zumal auch nicht von einer echten Privatisierung gesprochen werden kann, wenn der Bund weiterhin 100 Prozent der Anteile hält. Einerseits benötigt die Deutsche Bahn Rückendeckung und Mittel aus der Bundespolitik.
Wenn das nicht verlässlich geschieht und stattdessen Unsicherheit bei dem Unternehmen entsteht, führt das zu Problemen. Andererseits muss der ehemalige Staatskonzern endlich aus sich heraus wirtschaftlicher werden und dabei mehr die Kundeninteressen in den Blick nehmen. Das kann funktionieren, das zeigt das Beispiel Telekom. Bei ihr zweifelt niemand mehr die Privatisierung an.
Bis vor kurzem galt: Für die Instandhaltung von Strecken musste die Bahn selbst aufkommen, beim Neubau springt der Bund ein. War das ein falscher Anreiz für das Unternehmen, die Infrastruktur verfallen zu lassen?
Madsen: Ja, das war ein schwerer Webfehler der Bahnstrukturreform, da es sich nicht lohnte, die Schienen auf Vordermann zu bringen. Es muss daher ein Anreizsystem geschaffen werden.
Wie soll das aussehen?
Madsen: Bei den Trassenentgelten, die für die Nutzung der Schienen gezahlt werden, müsste ein Mindestniveau für die Qualität definiert werden. Dort, wo der Zustand der Bahn-Infrastruktur darunter liegt, muss entsprechend weniger Geld bezahlt werden. Dann gäbe es endlich einen Anreiz, für hohe Qualität und Verfügbarkeit zu sorgen.
In anderen Bereichen funktioniert das: Ein Vermieter hat ja auch ein Interesse daran, dass die Wohnung instandgehalten wird – wenn es plötzlich ins Dach hereinregnet, gibt es eine Mietminderung. Das schmerzt den Vermieter. Und genauso muss es die Bahn schmerzen, wenn sie sich nicht ausreichend um die Infrastruktur kümmert.
„Völlig absurd, wie die Ampel den Bundeshaushalt sanieren will“
Trotz des schlechten Zustandes des Bahnnetzes werden ab 2026 die Trassenentgelte wohl massiv steigen – was auf die Haushaltsplanung des Bundes zurückzuführen ist.
Madsen: Es ist völlig absurd, dass die Ampel den Bundeshaushalt sanieren will, indem sie Kosten auf Verkehrsunternehmen – und damit auf Fahrgäste und ökologisch handelnde Unternehmen umlegt. Und das, obwohl es in Deutschland bereits jetzt die europaweit teuersten Netzentgelte pro Kilometer Schiene gibt. Eigentum verpflichtet, deshalb hat der Bund die Schienen zu sanieren, und zwar nicht, indem er die Rechnung an andere durchreicht. Aktuell klagen deshalb auch noch zahlreiche Verkehrsunternehmen gegen die Erhöhung.
Welche Folgen hätte es, sollte die Gebührenerhöhung tatsächlich kommen?
Madsen: Als die Ampel-Regierung angetreten ist, hat sie sich zur Mobilitätswende bekannt und den Bundesländern mehr sogenannte Regionalisierungsmittel für den Schienen-Personennahverkehr versprochen. Stattdessen werden uns immer mehr Lasten aufgetragen.
Schon wegen der fehlenden Regionalisierungsmittel mussten wir uns anschauen, wo in den Randzeiten Züge abbestellt werden können und der Fahrplan damit minimal ausgedünnt wird. Wenn nun noch einmal zusätzlich 40 Millionen Euro nur für Schleswig-Holstein an Trassenkosten dazukommen, ist eine rote Linie überschritten – so viele Züge kann man gar nicht abbestellen, um das auszugleichen.
Deshalb dürfen diese Pläne nicht umgesetzt werden. Der Bund muss seiner grundgesetzlichen Pflicht nachkommen und sich an der Finanzierung des Schienenverkehrs angemessen beteiligen. Bei steigenden Kosten kann die Antwort keine Kürzung sein. Egal über welchen Weg. Und das werden wir auch lautstark einfordern.
„Bahn braucht motiviertes Personal, um aus der Misere zu kommen“
Allerdings werden auch künftige Bundesregierungen an die Schuldenbremse gebunden sein. Woher soll das Geld für die Bahn denn kommen?
Madsen: Selbst führende Ampelpolitiker haben erkannt, dass es in Deutschland kein Einnahme- sondern ein Ausgabeproblem gibt, d.h. es muss eine klare Prioritätensetzung für die Verkehrsinfrastruktur geben. Andere Länder in Europa investieren pro Einwohner deutlich mehr in ihr Schienennetz.
Die verkehrspolitische Grundsatzfrage ist zunächst einmal, in welche, Bereich das vorhandene Geld den meisten Nutzen bringt. Für mich ist es zum Beispiel nicht nachvollziehbar, warum die Digitalisierung nicht konsequent vorangetrieben wird.
Wir haben in Schleswig-Holstein zum Beispiel noch eine Vielzahl mechanischer Stellwerke, die sehr personalintensiv und kapazitätsmindernd sind. Eine weiter Möglichkeit ist es, langfristigere Finanzierungen aufzusetzen und der Bahn damit bessere Planungen zu ermöglichen. Immer auf die Schuldenbremse zu zeigen, ist mir dabei zu einfach.
Im Gespräch mit FOCUS online haben zahlreiche Mitarbeiter der Deutschen Bahn die Arbeitsbedingungen angeklagt. Schicht- und Ruhezeiten befinden sich offenbar am Rande des gesetzlich zulässigen. Welches Signal sendet es, wenn ein Staatskonzern so schlecht mit seinen Beschäftigten umgeht?
Madsen: Wichtig ist vorauszuschicken, dass die ganzen Probleme nicht auf die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurückzuführen sind. Umgekehrt ist es aber wichtig, dass die Bahn für motiviertes Personal sorgt, um mit ihnen aus ihrer Misere zu kommen. Wir sind zu diesem Thema deshalb auch im Austausch mit dem Unternehmen.
Welche Druckmittel haben Sie denn, um bei der Bahn etwas zu bewegen?
Madsen: Wir setzen immer wieder Malus-Zahlungen durch, zum Beispiel für verdreckte oder verspätete Züge. Viel mehr Möglichkeiten gibt es leider nicht.
Madsen fordert Neuanfang nach der Bundestagswahl
Ist der aktuelle Bahn-Vorstand um Richard Lutz überhaupt noch der richtige? Oder ist das Vertrauen so sehr beschädigt, dass personelle Konsequenzen gezogen werden müssen?
Madsen: Persönlich verstehe ich mich mit Herrn Lutz gut. Aber ich kann nicht beurteilen, wie die Bundesregierung und der Bahn-Vorstand zusammenarbeiten. Es braucht aber in jedem Fall einen Neuanfang. Nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr muss es eine Grundsatzdiskussion über Mobilität geben – in welcher Parteikonstellation auch immer. Daraus muss eine Strategie entstehen, wie der Bund mit der Bahn umgehen will. Ein Konzernchef muss zudem klar sagen, wie sein Plan ist. Dann wird sich zeigen, ob die Vorstellungen zusammenpassen.
Ein Neuanfang wäre die Zerschlagung der Deutschen Bahn. Konzernchef Lutz verweist in diesem Zusammenhang aber gerne auf die Schweiz, wo Infrastruktur und Bahnbetrieb wie bislang in Deutschland in einer Hand sind und trotzdem alles reibungslos läuft.
Madsen: Zunächst möchte ich klarstellen, dass eine wettbewerbsfördernde Trennung von Netz und Betrieb keine Zerschlagung ist, sondern in einer sozialen Marktwirtschaft der Normalfall sein sollte. Für mich ist daher die Trennung von Netz und Betrieb überfällig. Innerhalb des Konzerns gibt es aber eine breite Allianz dagegen – vom Vorstand bis hin zu den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Die Zeit drängt, ein Neuanfang nach der Bundestagswahl wird noch dauern. Was muss Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) bis zum Ende der Legislaturperiode noch in die Wege leiten?
Madsen: Herr Wissing sollte sich klarer zur Bahn bekennen. Ich glaube aber kaum, dass es ihm bis zur Wahl gelingen wird, viel umzusetzen. Vermutlich wird seine Zeit im Ministerium dann auch zu Ende gehen. Frischer Wind in dem Haus wäre für die Bahn sehr gesund.
Was muss ein neuer Bundesverkehrsminister mitbringen?
Madsen: Er muss ein guter Moderator sein und vertrauensvoll mit Ländern und Verkehrsunternehmen zusammenarbeiten können. Zum Beispiel beim 9-Euro-Ticket und Deutschlandticket war das Vertrauen nicht immer gegeben. Bis heute ist die Finanzierung nicht geklärt – es erstaunt mich, dass es trotz des großen Erfolgs keine klare Linie des Bundes gibt. Und auch bei anderen Themen findet leider kein Dialog statt.