CO2-Speicher geraten ins Wanken - „Die Rechnung wird kommen“: Klimaforscherin warnt vor Welt auf 3-Grad-Pfad

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2024 hat die Welt das 1,5-Grad-Ziel überschritten, und Extremwetter nehmen zu. Ökosysteme wie Wälder und Korallenriffe können dem Klimastress nicht mehr standhalten und werden zu CO2-Emittenten. Klimaforscherin Julia Pongratz warnt vor dem derzeitigen Kurs von 2,6 bis 3,1 Grad: „Die Rechnung wird kommen“.

FOCUS online Earth: Frau Pongratz, wie steht die Welt im Kampf gegen den Klimawandel?

Julia Pongratz: Es gibt zwei große Lücken: die zwischen den Zielen des Pariser Abkommens und den tatsächlichen Klimaschutzbeiträgen der Staaten und die zwischen den Klimaschutzbeiträgen und ihrer Umsetzung. Im Emissions Gap Report der Vereinten Nationen zeigen wir: Wenn die Klimaschutzbeiträge nicht massiv nachgeschärft und sofort umgesetzt werden, sinken die Emissionen bis 2030 nur um 4 bis 10 Prozent gegenüber 2019, während sie um 42 Prozent sinken müssten, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Ohne ehrgeizigere Ziele steuern wir auf eine Erwärmung von 2,6 bis 3,1 Grad zu.

Ist das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens überhaupt noch realistisch umsetzbar?

Pongratz: Technisch mag das 1,5-Grad-Ziel noch erreichbar sein, aber es wird extrem schwierig - vor allem, weil die Emissionen von Jahr zu Jahr weiter gestiegen sind. Noch fataler wäre es aber, das 1,5-Grad-Ziel aufzugeben. Jedes Zehntelgrad zählt und bedeutet weniger Schäden für Mensch und Umwelt. Wenn wir jetzt unser Ziel auf 2 Grad erhöhen, hätte das katastrophale Folgen: Zum Beispiel das Verschwinden tiefliegender Inseln und der Kollaps vieler Ökosysteme. Das Pariser Abkommen hat seine Ziele aus guten wissenschaftlichen Gründen festgelegt – unter 2 Grad scheinen die Risiken noch beherrschbar, aber es muss deutlich unter 2 Grad sein.

Was droht der Welt bei einer Erwärmung von 2,6 bis 3,1 Grad?

Pongratz: Jedes Zehntelgrad über den Zielwerten führt zu gravierenden Schäden. Der Weltklimarat schätzte ab, dass extreme Hitzeereignisse, die heute 3 Mal in 10 Jahren auftreten, bei einer globalen Erwärmung von 2 Grad 6 Mal in 10 Jahren auftreten und bei 4 Grad 9 Mal. Ohne den Einfluss des Menschen hätte es solche Extreme nur 1 Mal in 10 Jahren gegeben. Auch Dürren und Starkniederschläge werden zunehmen, das können wir in vielen Regionen der Welt beobachten und statistisch auf den Klimawandel zurückführen.

Das hat natürlich Auswirkungen wie Hungersnöte und Hitzetote – auch immer mehr hier im globalen Norden. Viele der extremen Wetterereignisse, die wir in den letzten Jahren gesehen haben, wie die großen Feuer in Kanada 2023 oder die Ahrtalkatastrophe wären ohne den Klimawandel deutlich unwahrscheinlicher oder weniger gravierend gewesen.

Zusammengefasst: Alles, was wir jetzt haben, nur noch öfter und schlimmer?

Pongratz: Ja, man muss sich vor Augen führen, dass wir vom Sommer 2023 auf 2024 zum ersten Mal 12 Monate am Stück globale Rekordtemperaturen erreicht haben. Das war nicht nur auf die menschengemachte Erwärmung, sondern auch das natürliche Phänomen El Niño zurückzuführen. Diese Kombination führte zu einem Jahresmittel 2023, das bereits etwa 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau lag. Was wir dabei gesehen haben – wie enorme Feuer, Hitzewellen und hohe Ozeantemperaturen – wird in der Zukunft als kühles Jahr gelten. Das gibt uns einen Eindruck davon, welche massiven Folgen uns erwarten, wenn wir den Klimawandel nicht noch in den Griff bekommen.

Gewisse Folgen hat die Klimakrise bereits jetzt auch schon auf alle Ökosysteme. Der deutsche Wald ist unter dem Hitzestress zum CO2-Emittenten statt Speicher geworden. Was passiert gerade mit der Natur auf der Welt?

Pongratz: Die Wechselwirkungen zwischen Natur und Klima sind kompliziert. Waldbrände gab es schon immer, aber sie haben langfristig kein zusätzliches CO2 freigesetzt, weil sich die Wälder regenerieren konnten. Durch die Erderwärmung gibt es jetzt aber mehr Brände, Dürren, Sturmschäden in immer kürzerer Folge, oft kommen Insektenausbrüche hinzu. Die Wälder, insbesondere die wenig widerstandsfähigen Fichtenforste in Deutschland, kommen mit dieser Häufung und Intensität von Extremen nicht zurecht. Hier entsteht eine gefährliche Rückkopplungsschleife: Die sterbenden Wälder entlassen mehr CO2 in die Luft bringt, was wiederum den Klimawandel anheizt.

Eine jüngste Studie hat ja gezeigt, dass die Ökosysteme letztes Jahr kaum noch CO2 aus der Luft gesogen haben. Was steckte dahinter?

Pongratz: Diese Studie hat das Jahr 2023 mit seinen extrem hohen Temperaturen untersucht, die aus dem Zusammentreffen der globalen Erwärmung mit dem El Niño-Effekt entstanden. Sie zeigt, dass die Aufnahmekapazität der natürlichen Vegetation aufgrund dieser Bedingungen deutlich schwächer war. Typischerweise nehmen Land und Ozean etwa die Hälfte der von uns emittierten CO2-Mengen auf. Aber in Jahren wie 2023, mit extrem hohen Temperaturen und Klimaanomalien, ist diese Aufnahmefähigkeit stark reduziert.

Bleibt also mit Ende von El Niño zu hoffen, dass es besser wird?

Pongratz: Die Folgen des El Niño sind noch nicht vorbei, es gibt immer noch viele Feuer gerade in Südamerika. Mit dem Abklingen des El Niño erwarten wir aber, dass diese extremen Ereignisse nachlassen und die natürlichen Senken sich etwas erholen. Trotzdem haben wir jetzt massiv geschädigte Ökosysteme, die uns nur bedingt als Kohlendioxidsenken zur Verfügung stehen, da viele Bäume bereits verloren gegangen sind.

Die Natur fungiert ja nicht nur als natürliche Klimasenke, sondern spielt ja auch eine wichtige Rolle für den Wasserhaushalt und die Biodiversität. Unterschätzen wir die Risiken der Klimakrise für die Natur?

Pongratz: Ja, das muss man ganz deutlich sagen: Ökosysteme sind enorm wichtig für das Klimasystem und um die globale Erwärmung in Schach zu halten. Der Verlust von Ökosystemen hat aber auch gravierende Folgen für die Biodiversität und den lokalen Lebensunterhalt wie zum Beispiel für Fischer. Indigene Kulturen, die eng mit den natürlichen Ökosystemen verbunden sind, leiden ebenfalls. Klimaschutz bringt oft auch Vorteile im Bereich des Biodiversitätsschutzes. Es ist kein Ausspielen der Ziele gegeneinander, sondern im Gegenteil, sie wirken zusammen oft besser und erzeugen Win-Win-Situationen.

Was fordern Sie von der Regierung in Deutschland, aber auch von der Weltgemeinschaft, um die Ökosysteme zu schützen?

Pongratz: Die Renaturierung der Ökosysteme ist wichtig, aber noch wichtiger ist es, die Schädigung von Ökosystemen zu stoppen. Wir sehen noch immer massive Entwaldung, zum Beispiel in Brasilien, der Demokratischen Republik Kongo und Indonesien. Dort gehen unberührte Ökosysteme verloren, zusammen mit Arten, die wir noch nicht einmal erkannt haben. Das hat gravierende Folgen weit jenseits der Klimaproblematik. Ein guter Teil dieser Entwaldung ist auf den Export von land- und forstwirtschaftlichen Gütern in die reichen Staaten der Welt zurückzuführen – hier haben wir in Deutschland also Stellschrauben in der Hand.

Gleichzeitig müssen wir im globalen Norden an die Renaturierung herangehen. In Deutschland haben wir fast keine unberührten Ökosysteme mehr, daher ist Renaturierung hier entscheidend. Wir brauchen klimaresiliente Wälder, müssen zu den ursprünglichen Laub- und Mischwäldern zurückkehren. Auch die Moore müssen wieder vernässt werden.

Das fordern Klimawissenschaftler wie Sie bereits seit Jahrzehnten – und doch passiert zu wenig zu langsam. Reicht Ihnen das?

Pongratz: Wir haben teilweise sehr positive Ansätze in Deutschland, wie das Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz, wo sehr viel für die Moore, Wälder und andere Ökosysteme getan wird. Aber es ist nicht genug und trifft immer wieder auf praktische Hürden in der Umsetzung wie komplizierte Genehmigungsverfahren oder ungünstige landwirtschaftliche Subventionsstrukturen. Klimaschutz allgemein trifft auf unnötige Widerstände, weil er sehr oft mit Verzicht in Verbindung gebracht wird, ohne zu sehen, dass Klimaschutz viele Win-Win-Situationen kreiert.

Man denke allein an die Vorteile im persönlichen Bereich: der Umstieg vom Auto aufs Fahrrad, wo das gut möglich ist, oder eine Ernährungsweise mit weniger Fleisch hat auch viele gesundheitliche Vorteile. Es geht nicht um Verzicht, sondern um persönlichen Gewinn und eine grüne, saubere Welt für uns selbst und unsere Kinder.

Und doch scheint überall das Geld zu fehlen für den Klimaschutz?

Pongratz: Die Rechnung des Klimawandels kommt, und es ist verantwortungslos, sie zukünftigen Generationen zu überlassen. Studien zeigen, dass das Paris-Abkommen die kosteneffizienteste Lösung ist: wenn wir sein Ziel nicht erreichen, werden die Klimaschäden so massiv, dass es uns viel mehr kostet als die Anstrengung einer Energietransformation und anderer Klimaschutzmaßnahmen jetzt.

Es ist nicht nur kostengünstiger, jetzt zu handeln, sondern auch eine Frage der Fairness, zukünftigen Generationen ihren Handlungsspielraum zu erhalten. Auch den Nachschärfungen im Klimaschutzgesetz liegt der Gedanke zugrunde, dass die Freiheitsrechte von Unternehmen und Personen in der Zukunft gewahrt bleiben.

Gibt es einen Punkt, an dem es zu spät ist? Ab wann sind bestimmte Ökosysteme nicht mehr zu retten?

Pongratz: Es lohnt sich, für jedes Zehntelgrad zu kämpfen. Der Weltklimarat zeigt, dass bei einer Erwärmung um 1,5 Grad Korallenriffe um weitere 70 bis 90 Prozent zurückgehen werden. Bei 2 Grad sind es 99 Prozent. Bei den sogenannten Kipppunkten variiert das Risiko je nach Prozess und Region. Im Amazonas besteht eine deutliche Gefahr, dass das Ökosystem kippt, bei der atlantischen Umwälzpumpe ist es unsicherer. Wir haben auch jetzt schon Beispiele von irreversiblen Änderungen, wie einzelne Gletscher in der Antarktis, die sich nicht mehr regenerieren würden, selbst wenn die Temperaturen wieder sänken.

Das Risiko für unumkehrbare Prozesse steigt ständig, aber schon ohne Kipppunkte sind die Auswirkungen gravierend. Die extremen Wetterereignisse betreffen uns inzwischen alle, nicht mehr nur scheinbar ferne Regionen und zukünftige Generationen. Auch in Europa sehen wir nun regelmäßig Hitzetote und Überschwemmungen. Es ist daher entscheidend, dass wir jetzt massiv in den Klimaschutz investieren, um ökonomisch und menschlich hohe Verluste zu vermeiden.