Dammbruch bei Volkswagen: Zehntausende ID.6 sollen in China hergestellt und nach Europa importiert werden – erstmals in der Konzerngeschichte

Stephan Wollenstein, Chef von Volkswagen China, stellt den ID. 6 vor.
Stephan Wollenstein, Chef von Volkswagen China, stellt den ID. 6 vor.

Die Konzernspitze von Volkswagen bereitet eine Zäsur vor. Erstmals will die Chefriege um CEO Herbert Dies zehntausende ID.6 Modelle in China produzieren lassen und nach Europa importieren. Die Pläne wurden im Geheimen besprochen, der Beschluss soll in wenigen Wochen gefasst werden, erfuhr Business Insider.

Seit Jahrzehnten gibt es innerhalb des VW-Konzerns die stille Hoffnung, eines Tages in China produzierte Fahrzeuge nach Europa zu verschiffen und hier zu verkaufen. Die Produktions- und Personalkosten sind in China um ein Vielfaches geringer als in Deutschland, die Margen für den E-SUV, der deutlich teurer ist als etwa ein Golf, würden üppig ausfallen. Nun sollen sich nach Willen der Konzernspitze endlich Wirklichkeit werden. Pro Jahr sollen demnach rund 15.000 ID.6 nach Europa importiert werden, im 5-Jahres-Zyklus hofft man im Vorstand auf eine Stückzahl von rund 80.000 SUV-Stromern, die man in Europa absetzen kann.

Für die Arbeitnehmervertreter bei Volkswagen wäre das ein gefährlicher Präzedenzfall. Wenn einmal die Schleuse für den Import eines in China gefertigten Modells nach Europa geöffnet wird, könnte diese nicht mehr zu schließen sein. Die Folge: Der Vorstand würde im großen Stil Jobs nach China verlagern und Kosten sparen.

Ohnehin schlägt sich Volkswagen gerade mit dem Konkurrenten Tesla herum, der im vergangenen Monat mit seinem Model 3 mehr Autos verkauft hat als alle deutschen Autobauer in vergleichbarer Klasse. Der Knackpunkt: Tesla produziert die Model 3 in China und exportiert sie in die ganze Welt – und spart dabei eine Menge Personalkosten.

Es geht dabei aber nicht nur um den US-Wettbewerber. Denn Volkswagen kämpft mit einem schleppenden Absatz der ID-Reihe in China, dem mit Abstand wichtigsten Markt der Wolfsburger. Dieses Jahr wollten sie eigentlich 100.000 ID-Fahrzeuge im Reich der Mitte veräußern, mittlerweile spricht der Konzern nach außen eher von der Zahl 80.000.

Auf Anfrage von Business Insider gibt sich ein VW-Sprecher dennoch optimistisch. „Die Auslieferungszahlen der ID. Familie in China liegen voll im Plan. Kurz nach der Markteinführung der ID.4 Modelle wurden im Mai 1.500 an Kunden ausgeliefert, im Juni waren es 3.400, im Juli knapp 6.000 und im August rund 7.000. Im September wurden 10.000 Einheiten erreicht, die im Oktober noch einmal deutlich übertroffen wurden“, sagt der Sprecher. „Im E-Automarkt führt der ID. 4 das Segment der A-SUVs an und belegt Platz 2 unter allen vollelektrischen SUVs. Auch der ID. 6 zeigt bereits in den ersten drei Monaten seit seiner Markteinführung im Juni/Juli permanent steigende Zulassungen.“

Zu den Plänen des Vorstandes, den ID.6 auch in Europa zu verkaufen, sagte der Sprecher: „Wenn Modelle in einem Markt erfolgreich sind, ist es nur natürlich, dass auch die Marktchancen in anderen Regionen analysiert werden. Das gilt natürlich auch für den siebensitzigen SUV ID.6. Volkswagen könnte damit zudem ein neues Marktsegment in Europa erschließen. Eine Entscheidung, ob der ID.6 auf dem europäischen Markt eingeführt wird, ist noch nicht gefallen.“

Ein Sprecher des Betriebsrates sprach von „Spekulationen“, die er nicht kommentieren könne. Allerdings hieß es aus Kreisen der Arbeitnehmervertretung, dass das Thema derzeit weder auf dem Tisch liege, noch dass es dafür eine Zustimmung geben würde. Die wäre vom Betriebsrat jedoch nötig. Und ohne die Zustimmung der mächtigen Arbeitnehmervertretung geht in Wolfsburg bekanntlich kaum etwas.

Es wird deutlich: Zwischen Konzernspitze und Betriebsrat deutet sich der nächste Konflikt an. Es sind aber nicht nur die ID.6, die nach dem Willen der Konzernspitze aus China importiert werden sollen. Am Mittwoch landete die Betriebsratschefin Daniela Cavallo einen überraschenden Punktsieg gegen Konzernchef Herbert Diess. Er musste sich Cavallos Druck in einer Sitzung des Aufsichtsrates beugen und eine geplante US-Reise absagen. Stattdessen muss er nun am 4. November zur VW-Betriebsversammlung kommen, auf der es um Umbau des Wolfsburger Stammwerkes geht. Entsprechend sauer soll Diess nach der Aufsichtsratssitzung gewesen sein.

Der Volkswagen-Chef sah sich nach der Episode sogar veranlasst, eine Botschaft an die Belegschaft ins Intranet stellen zu lassen. Business Insider kennt den Wortlaut: „Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der Dialog mit Ihnen ist mir sehr wichtig, da vor uns gewaltige Aufgaben liegen, insbesondere an unserem Stammsitz in Wolfsburg. Um an der Betriebsversammlung physisch teilzunehmen, verschiebe ich die wichtige Reise in unseren Kernmarkt USA. Das geplante Dialogformat werde ich später nachholen. Ich freue mich auf den wichtigen Austausch mit Ihnen." Der Mittwoch, so viel steht fest, war ein klarer Sieg für Cavallo.