Das Leid der Hazara: Der verborgene Genozid im Afghanistan-Konflikt

Eine Frau trauert am Grab ihrer Tochter, die 2018 bei einem Selbstmordanschlag auf ein Bildungszentrum in Dasht-e-Barchi getötet wurde (Bild: REUTERS/Mohammad Ismail)
Eine Frau trauert am Grab ihrer Tochter, die 2018 bei einem Selbstmordanschlag auf ein Bildungszentrum in Dasht-e-Barchi getötet wurde (Bild: REUTERS/Mohammad Ismail)

Im täglich von Tragödien heimgesuchten Afghanistan war der Anschlag vom 8. Mai dennoch einer der grausamsten seit langem. 94 Menschen wurden durch eine Autobombe und weitere Explosivkörper in den Tod gerissen - die meisten von ihnen Mädchen im Teenageralter, die gerade ihre Schule verließen. Viele weitere wurden verletzt.

Die üblichen Erklärungen waren in den Medienberichten schnell bei der Hand: Militante Gruppen im Aufwind angesichts des NATO-Rückzugs, deren Feindschaft gegenüber Bildung insbesondere für Mädchen. Gelegentlich wird auch erwähnt, dass die Opfer Shiit:innen waren. All dies dürfte eine Rolle spielen, doch hinter der Bluttat steht eine Geschichte der Gewalt, die noch länger als die anderen Konflikte im Land andauert.

Angehörige suchen nach dem Anschlag auf die Schule am 8. Mai nach Besitztümern der Opfer (Bild: AP Photo/Mariam Zuhaib)
Angehörige suchen nach dem Anschlag auf die Schule am 8. Mai nach Besitztümern der Opfer (Bild: AP Photo/Mariam Zuhaib)

Der Angriff auf die Schule ereignete sich im Stadtteil Dasht-e-Barchi, die Opfer gehören der Minderheit der Hazara an, die regelmäßig zum Ziel besonders brutaler Anschläge wird - etwa fast genau ein Jahr zuvor, als am 12. Mai 2020 als Polizisten verkleidete Bewaffnete im selben Stadtviertel in eine Entbindungsklinik eindrangen und systematisch Schwangere, Wöchnerinnen und Neugeborene ermordeten. Auch in den Jahren davor gab es immer wieder gezielte Attacken auf Einrichtungen und Veranstaltungen der Hazara, die oft Dutzende Opfer forderten. Es ist ein tödliches Muster, das in der Außenwahrnehmung zumeist in der übrigen Gewalt im Land aufgeht.

Eine verwundete Schülerin wird nach dem Anschlag in eine Klinik gebracht (Bild: REUTERS/Stringer)
Eine verwundete Schülerin wird nach dem Anschlag in eine Klinik gebracht (Bild: REUTERS/Stringer)

Im multiethnischen Afghanistan heben sich die Hazara durch zwei Merkmale von den meisten anderen Volksgruppen ab: Sie sind mehrheitlich Schiiten und ihr Phänotyp weist auf Wurzeln in Zentralasien hin. Sie sind darum nicht nur religiöser Diskriminierung sondern auch systemischem Rassismus ausgesetzt. Das Hauptsiedlungsgebiet der Hazara ist das nach ihnen benannte Hazāradschāt, das mehrere Provinzen in der Mitte des Landes umfasst. Sie sprechen einen eigenen persischen Dialekt, das Hazaragi. In Afghanistan leben heute etwa vier Millionen Hazara, mit einem Bevölkerungsanteil von etwa 9 Prozent sind sie die drittgrößte Gruppe nach den Paschtunen (ca. 40%) und Tadschiken (ca. 27%). Dabei waren sie einmal die bevölkerungsreichste Ethnie des Landes, doch das änderte sich vor etwa 130 Jahren schlagartig auf brutale Weise.

Völkermord zur Staatsbildung

Die Leiden der Hazara begannen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Errichtung des modernen afghanischen Zentralstaats unter paschtunischer Vorherrschaft. Der nach dem Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg von den Briten eingesetzte Emir Abdur Rahman Khan brachte ab Ende der 1880er Jahre das zuvor autonome Hazāradschāt unter seine Kontrolle. Zwischen 1888 und 1893 erhoben sich Hazara-Stämme in drei Aufständen gegen die Regierung, die mit zunehmender Brutalität niedergeschlagen wurden. Die von britischen Militärausbildern trainierten Truppen des Emirs verübten schließlich einen Genozid, bei dem Hunderttausende Hazaras, nach Schätzungen etwa 60 Prozent ihrer damaligen Bevölkerung, ermordet, vertrieben oder versklavt wurden. Auf den entvölkerten Landstrichen wurden Paschtunen angesiedelt.

Emir Abdur Rahman Khan war für den Völkermord an den Hazara Ende des 19. Jahrhunderts verantwortlich (Bild: Wikimedia/Public Domain)
Emir Abdur Rahman Khan war für den Völkermord an den Hazara Ende des 19. Jahrhunderts verantwortlich (Bild: Wikimedia/Public Domain)

Es folgte ein Jahrhundert der Unterdrückung und wirtschaftlichen Benachteiligung, beim Ausbau der Infrastruktur blieb das Hazāradschāt weitgehend außen vor, Hazara wurden noch lange nach ihrer Unterwerfung als Sklaven gehandelt. Es gab weitere Aufstände, 1933 ermordete ein Hazara den damaligen König Afghanistans. Ihre Lage wurde erst Anfang der 1980er Jahre unter der von der Sowjetunion installierten Satellitenregierung besser, Hazara konnten nun auch in Militär und Verwaltung Karriere machen. Im von den USA unterstützten Dschihad der Mudschaheddin gegen die Sowjets fanden sich Hazara auf beiden Seiten, auch unter ihnen setzten sich die islamistischen Kräfte durch. Nach der sowjetischen Niederlage waren Hazara zunächst in der neuen Mudschaheddin-Regierung vertreten, wurden aber schnell aus dieser verdrängt.

Oppositionelle Hazara-Kämpfer im afghanischen Bürgerkrieg (Bild: Robert Nickelsberg/The LIFE Images Collection via Getty Images)
Oppositionelle Hazara-Kämpfer im afghanischen Bürgerkrieg (Bild: Robert Nickelsberg/The LIFE Images Collection via Getty Images)

Auch am anschließenden Bürgerkrieg nahmen verschiedene Hazara-Milizen teil, ihre Zivilbevölkerung wurde unterdessen immer wieder Ziel von Massakern. Täter waren dabei auch Fraktionen wie die Kämpfer des im Westen geschätzten Ahmad Schah Massoud oder von Abdul Rasul Sayyaf, der bis heute großen Einfluss im afghanischen Parlament besitzt. Als die Taliban 1998 Masar-e Scharif einnahmen, töteten sie dort alle männlichen Hazara im annähernd waffenfähigen Alter, derer sie habhaft wurden. Weitere Massaker gab es nach der Eroberung des Hazāradschāt, und auch während der Talibanherrschaft kam es immer zu Massenhinrichtungen von Hazara. Zudem waren die schiitischen Riten wie das Aschurafest in dieser Zeit verboten.

Massaker, zu denen sich niemand bekennt

Nach dem Fall der Taliban verbesserte sich die Situation der Hazara wieder etwas, sie sind offiziell gleichgestellt, wieder in der Politik repräsentiert und machen trotz ihrer wirtschaftlich weiter prekären Situation besonders eifrig von den neuen Bildungsmöglichkeiten Gebrauch. Auch die unter den Taliban verbotene Schulbildung für Mädchen hat für sie einen hohen Stellenwert. Doch die alltägliche Diskriminierung geht weiter, die regelmäßigen Angriffe nehmen zu. Alleine für die Amtszeit des derzeitigen Präsidenten Aschraf Ghani, die 2015 begann, haben Aktivisten mehr als 30 gezielte Anschläge auf Hazara erfasst, die zusammen über 1000 Todesopfer forderten.

Hazara-Vertreter werfen der afghanischen Regierung immer wieder vor, die Attacken zumindest in Kauf zu nehmen. Einrichtungen und Veranstaltungen der Hazara werden oftmals schlechter beschützt als die anderer Gruppen, Rettungskräfte kommen verspätet zu den Tatorten und immer wieder stehen Angehörige der Sicherheitskräfte im Verdacht, mit den Angreifern zu kollaborieren.

Während die Angriffe mit brutaler Präzision ablaufen, bleibt danach oftmals unklar, wer tatsächlich für die Bluttaten verantwortlich ist. Die öffentlichen Schuldzuweisungen laufen nach einem fast schon ritualisierten Muster ab: Die Regierung beschuldigt umgehend die Taliban, die wiederum verweisen ebenso schnell auf den “Islamischen Staat”. So geschehen auch bei dem Angriff auf die Entbindungsklinik, zu dem sich bis heute niemand bekannt hat, und nun erneut beim Anschlag auf die Schule. Journalisten, die nach dem 8. Mai nach Belegen für die Darstellung der Regierung fragten, berichten von Einschüchterungen.

Entsprechend gering ist das Vertrauen der Hazara in die afghanische Regierung und sie blicken mit besonders großer Sorge auf die Zeit nach dem Abzug der NATO-Truppen. Nach dem Anschlag vom 8. Mai waren im afghanischen Fernsehen zahlreiche Hazara zu sehen, die in Kabul Schlange standen, um sich selbst zu bewaffnen.

Die Leiden der Hazara machen zudem nicht an den Grenzen halt, auch in den Nachbarländern, in die sie in großer Zahl vor der Verfolgung geflohen sind, sind sie Diskriminierung und Ausbeutung ausgesetzt. In Pakistan, wo etwa 900.000 Hazara leben, werden sie ebenfalls regelmäßig von Islamisten angegriffen, so wurden etwa im Januar elf Hazara-Bergarbeiter von IS-Kämpfern entführt und ermordet. Auch im schiitischen Iran, wo um die 500.000 Hazara leben, ist der Rassismus gegen sie verbreitet. Hazara üben auch dort in der Regel die am schlechtesten bezahlten Jobs aus, die wirtschaftliche Not machen sich schiitische Milizen zunutze, die junge Männer für den Syrienkrieg rekrutieren. Hazara machen einen großen Anteil der nach Europa flüchtenden Afghanen aus, ein besonderer Schutzstatus wird ihnen dabei nirgends gewährt.

Geflüchtete Hazara demonstrieren nach dem Anschlag auf die Schule am 8. Mai vor dem UNHCR-Büro in Jakarta (Bild: Afriadi Hikmal/NurPhoto via Getty Images)
Geflüchtete Hazara demonstrieren nach dem Anschlag auf die Schule am 8. Mai vor dem UNHCR-Büro in Jakarta (Bild: Afriadi Hikmal/NurPhoto via Getty Images)

Mit den Auswirkungen der Verfolgung und der Anschläge sehen sich die Hazara weitgehend allein gelassen. Aktivisten kritisieren vielfach, dass das Echo auch in Afghanistan wie auch in der Diaspora geringer ausfalle als bei vergleichbaren Taten und dass oftmals die Identität der Opfer ausgeblendet werde. Entsprechend groß ist der Wunsch nach mehr Sichtbarkeit. Angehörige der Getöteten vom 8. Mai erneuerten eine schon seit Jahren vorgebrachte Forderung an die UN und den Internationalen Strafgerichtshof: Die Verfolgung der Hazara in den letzten Jahren soll als Genozid anerkannt und entsprechend untersucht werden.

Video: US-Truppenabzug aus Afghanistan - Hazara-Milizen rüsten auf