Deutsche Sparer verwandeln EU-Randgebiet in Fintech-Speerspitze

(Bloomberg) -- Vor sieben Jahren hatte Martins Sulte Probleme, eine Bank zu finden, über die er sein Studium an der Wirtschaftshochschule Insead in Paris finanzieren konnte. Zu seinem Glück stieß er dabei auf eine Website, die Kreditnehmer mit einer riesigen Datenbank von Gläubigern zusammenbringt.

Es war der erste Vorgeschmack des lettischen MBA-Studenten auf das, was mittlerweile als Peer-to-Peer-Kreditvergabe bezeichnet wird. Auch nach Abschluss seines Studiums und seiner Rückkehr in sein Heimatland blieb ihm diese Idee in Erinnerung.

Das Konzept hat auch die Aufmerksamkeit von Sparern auf sich gezogen, die von den extrem niedrigen Zinsen weltweit die Nase voll haben. Insbesonders in den USA und in Großbritannien sind schnell wachsende Peer-to-Peer-Plattformen beliebt und bieten häufig Erträge von mehr als 10%. Aber es gibt Fragezeichen hinsichtlich Regulierung, der Gefahr von Betrug und wie die junge Branche in einer Finanzkrise abschneiden würde.

Machen wir einen Sprung ins Jahr 2020: Sulte leitet nun Mintos Marketplace AS, das größte Forum für P2P-Darlehen in der Europäischen Union. Er hat das Unternehmen im Jahr 2015 gegründet und kontrollierte nach Angaben des britischen Analyse-Unternehmens Brismo im vergangenen Jahr zwei Fünftel des 6,4 Milliarden Euro schweren Marktes in der EU.

Startups im benachbarten Estland und Litauen sind ebenfalls in den Markt eingestiegen - in einem Maße, dass Unternehmen in der baltischen Region laut Branchenwebsite p2pmarketdata.com 25 der 47 größten Unternehmen der EU in dem Segment darstellen.

Wie kam es dazu, dass eine Region, die zuletzt mit einer Flut von Geldwäscheskandalen in Verbindung gebracht wurde und in der weniger als 1,5% der EU-Bevölkerung lebt, in dieser Nischenbranche so stark Fuß fassen konnte?

Der 34-jährige Sulte führt dies auf Innovation und schnelles Handeln zurück.

“Eine Welle der Finanztechnologie hat eingesetzt”, sagte er in einem Bloomberg-Interview in Riga. “In Europa gab es nicht wirklich einen ernsthaften Akteur.”

In vielerlei Hinsicht sind die baltischen Länder - allesamt Mitglieder der EU und der Eurozone - ideal für Finanztechnologieunternehmen geeignet. Estland, die Geburtsstätte von Skype, wirbt seit langem mit seiner E-Governance-Kompetenz. Litauen hat sich als nach-Brexit-Tor zur EU für Fintech-Startups positioniert.

Aber es steckt noch mehr dahinter.

Ein wichtiger Faktor ist der Brexit selbst, durch den Schwergewichte aus Großbritannien aus der EU-Rangliste gefallen sind. Die in London beheimatete Funding Circle hat britischen Unternehmen umgerechnet 7 Milliarden Euro geliehen.

Ein weiterer Faktor ist die Regulierung.

Während das Vereinigte Königreich das Crowdfunding-Gesetz schnell verabschiedete, verfolgte unter den baltischen Ländern nur Litauen im Jahr 2016 einen ähnlichen Ansatz. EU-weite Regeln für die Branche sind erst jetzt in Arbeit.

“Der freie Ansatz begünstigte ein schnelleres Wachstum”, sagte Jekaterina Govina, Leiterin der Aufsicht bei der litauischen Zentralbank. “Es ist immer einfacher, ein Unternehmen aufzubauen, wenn die Regierung sich nicht einmischt, es keine Kontrolleure gibt, die im Hintergrund überwachen oder Genehmigungen verlangen.”

Das Peer-to-Peer-Wachstum in Litauen ist laut Govina „nachhaltiger als in Ländern ohne Regulierungssysteme“.

Kunden, die über Mintos Geld verleihen, sind hauptsächlich in Westeuropa ansässig, wobei Deutschland zu den größten Märkten zählt. Über die IT-Drehscheibe in Riga können mit ihren Barmitteln über verbundene oder externe Kreditanbieter Darlehen in bis zu 30 Ländern vergeben werden - bis hin zu Indonesien und Botswana.

Diese exotisch klingenden Destinationen könnten einige Kreditgeber abschrecken - insbesondere wenn die angebotenen Pakete Kurzzeitkredite, sogenannte Zahltagskredite, enthalten und mit Zinssätzen von bis zu 5000% ausgestattet sind.

Aber sogar im typisch konservativen Deutschland boomt die Nachfrage.

Timo Walther, ein 29-jähriger Software-Ingenieur in Berlin, hat 5% seiner Ersparnisse über Peer-to-Peer-Plattformen wie Mintos investiert. Er war beeindruckt von der technischen Versiertheit und der geografischen Reichweite. Allerdings war in einem Land, in dem Sparer die anhaltend niedrigen Zinsen der Europäischen Zentralbank kritisieren, seine Entscheidung weitgehend auf die höheren Gewinne zurückzuführen.

„Ich habe hauptsächlich damit angefangen, weil es unglaubliche Erträge brachte”, sagte Walther. „Ich investiere auch in Aktien, aber mit Aktien bekommt man nicht einfach so 12%.”

Ein großer Kritikpunkt an der Branche weltweit ist, dass ihre Stabilität noch nicht in einem Konjunkturabschwung getestet wurde. Daneben sind noch andere Probleme aufgetaucht, auch im Baltikum.

Estland eröffnete im Januar Betrugsermittlungen, nachdem zwei Crowdfunding-Websites nicht erreichbar waren und Tausende von Investoren - hauptsächlich ausländische - nicht an ihr Geld kamen. Zwar sind nach Auskunft der Polizei die Chancen, das investierte Geld zurückzubekommen, gering, die Plattformen im Allgemeinen jedoch vertrauenswürdig.

Dieser Fall war relativ klein: insgesamt rund 40 Millionen Euro. Das estnische Finanzministerium hat die Anleger in Bezug auf Crowdfunding zu größerer Vorsicht aufgefordert und bereitet die Lizenzierung solcher Unternehmen vor.

Laut Tania Ziegler vom Cambridge Centre for Alternative Finance, wo sie im Bereich alternative Kreditvergabe forscht, verfügt Estland auch ohne spezifische Regulierung über einen detaillierten Kodex bewährter Praktiken. “Ein derartiges Regelwerk hat ein gewisses Niveau an Vertrauen und Professionalität in der Region geschaffen”, sagte sie.

Für Sulte von Mintos boomt das Geschäft und Vertrauen ist der Schlüssel, um das Wachstum am Laufen zu halten. “Unser Ziel ist es letztendlich, Kredite zu einer akzeptablen Anlageklasse zu machen, in die ein Privatanleger investieren kann”, sagte er.

Überschrift des Artikels im Original:German Savers Transformed an EU Fringe Into a Fintech Vanguard

--Mit Hilfe von Carolynn Look und Zoe Schneeweiss.

Kontakt Reporter: Aaron Eglitis in Riga aeglitis@bloomberg.net;Milda Seputyte in Vilnius mseputyte@bloomberg.net;Ott Ummelas in Tallinn oummelas@bloomberg.net

Kontakt verantwortlicher Editor: Andrea Dudik adudik@bloomberg.net, Andrew Langley, Rita Hagedorn

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