Deutsches Wahlrecht vor Veränderung - 5-Prozent-Sperrklausel verfassungswidrig! Kommt nun eine Absenkung?

Das Bundesverfassungsgericht hat die 5 Prozent-Hürde für derzeit verfassungswidrig erklärt.<span class="copyright">Uli Deck/dpa</span>
Das Bundesverfassungsgericht hat die 5 Prozent-Hürde für derzeit verfassungswidrig erklärt.Uli Deck/dpa

Das Bundesverfassungsgericht hat die 5-Prozent-Hürde für derzeit verfassungswidrig erklärt. Sozialforscher Andreas Herteux erläutert die Hintergründe näher und analysiert, ob eine Absenkung sinnvoll wäre und kommen wird.

Ist die 5-Prozent-Sperrklausel verfassungswidrig?

Das Bundesverfassungsgericht hat am 30. Juli 2024 über das Bundeswahlgesetz der Ampel-Regierung entschieden. In diesem Rahmen erklärte das Gericht die 5 Prozent-Sperrklausel, die besagt, dass nur Parteien, die mindestens 5 Prozent der Zweitstimmen erhalten, Sitze im Bundestag bekommen, für derzeit verfassungswidrig. Der am stärksten gewichtete Grund hierfür ist, dass diese Regelung unter den aktuellen Bedingungen nicht mehr notwendig sei, um die Arbeitsfähigkeit des Bundestages zu gewährleisten. Sie verstoße zudem gegen die Wahlgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) und benachteiligt insbesondere kleinere Parteien dabei, im demokratischen Willensprozess mitzuwirken (Art. 21 Abs. 1 GG).

Generell sollte man an dieser Stelle aber darauf hinweisen, dass die Feststellungen nicht sonderlich spektakulär oder neu sind. Die 5-Prozent-Sperrklausel war nie im Grundgesetz verankert, sondern in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG, und galt auch nicht immer für das komplette Staatsgebiet.

1949 existierte beispielsweise keine Hürde auf Bundes-, sondern nur auf der Länderebene. 1990 gab es eine additionale sowie separate Hürde für Ost- und Westdeutschland. Für Parteien nationaler Minderheiten gilt ebenso ein anderes Verfahren, das aktuell dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) einen Sitz im Bundestag sichert.

Bedeutet das Urteil, dass die 5 Prozent-Sperrklausel ab sofort abgeschafft ist?

Das Urteil bedeutet nicht, dass die Sperrklausel abgeschafft wird. Sie bleibt vorläufig in Kraft. Es ist wichtig zu betonen, dass die Kritik an der 5-Prozent-Hürde nicht erst in den letzten Jahren aufgekommen ist; sie wurde stets im Kontext der jeweiligen Rahmenbedingungen und möglicher Ausgleichsmechanismen betrachtet.

Die Rechtsprechung hat lange klargestellt, dass eine 5 Prozent-Hürde nur unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt ist. Eine dieser Voraussetzungen war die Existenz der Grundmandatsklausel. Diese Klausel besagt, dass Parteien, die weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen erhalten, aber in mindestens drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen gewinnen, dennoch in den Bundestag einziehen können.

Die Ampelkoalition plante, die Grundmandatsklausel im Rahmen ihrer Wahlrechtsreform abzuschaffen, was die Bewertung der Sperrklausel durch das Gericht beeinflusst hat. Mit dem Urteil bleibt daher auch die Grundmandatsklausel vorerst bestehen, bis die derzeitige oder eine zukünftige Regierung eine neue Wahlrechtsreform vorlegt.

Wäre eine Absenkung der 5-Prozent-Sperrklausel ein denkbarer Ausweg?

Grundsätzlich gibt es mehrere Auswege, aber eine Absenkung könnte unter Umständen etwaige verfassungsrechtliche Bedenken ausräumen. Eine niedrigere Sperrklausel, vielleicht 3 Prozent oder 4 Prozent, hätte folgende Vorteile, ohne die Funktionsfähigkeit des Parlaments einzuschränken:

  • Erhöhte Repräsentation: Eine entsprechende Absenkung der Hürde im Bund dürfte zu einer größeren Vielfalt des politischen Spektrums im Parlament führen, da sich die Chancen für kleinere Parteien, Sitze zu gewinnen, deutlich erhöhen würden. Zugleich dürfte diese neue Vielfalt die verschiedenen Weltansichten, Bedürfnisse und Wünsche der in viele Milieus zersplitternden deutschen Gesellschaft, die sich mittlerweile teilweise unversöhnlich gegenüberstehen, weitaus besser abbilden können. Dies können die Parteien nicht mehr, und das ist auch der tiefere Grund dafür, dass es faktisch keine Volksparteien mehr gibt.

  • Mehr politischer Wettbewerb: Die 5 Prozent-Sperrklausel ist eine Bevorzugung etablierter Parteien gegen etwaige Konkurrenz. Bei einer Absenkung müssten sich diese Kräfte einem intensiveren Wettbewerb stellen, und das Ringen um die besten Ideen für die Menschen erlebt damit womöglich eine Renaissance. Nicht nur die politische Macht stünde auf dem Spiel, sondern auch die Parteienfinanzierung und die mediale Präsenz. Nichts zerrinnt so schnell wie sicher geglaubte Macht. Das mag nicht jeder politischen Organisation gefallen, aber Konkurrenz belebt das Geschäft und weckt vielleicht positive Eigenschaften, die manch ein Wähler bei dem einen oder anderen Politiker nicht mehr auf den ersten Blick erkennen.

  • Weniger Stimmenverlust: Durch eine niedrigere Hürde würden weniger Wählerstimmen „verloren“ gehen, d. h., sie würden sich nicht auf Parteien verteilen, die nicht im Parlament vertreten sind („Sonstige“). Hier ist das Jahr 2013 mit 15,7 Prozent ein wenig rühmlicher Höhepunkt deutscher Bundestagswahlen.

  • Stabilität des Parlaments: Es gibt keinen empirischen Beleg, dass eine Absenkung der Sperrklausel auf 3 Prozent oder 4 Prozent die Stabilität des Parlaments gefährden würde. Das sind rein theoretische Erwägungen, bei denen gelegentlich auch Interessenskonflikte vorherrschen. Im Gegenteil war beispielsweise die Regierung Adenauer I (1949-1953), ohne eine bundesweite 5 Prozent-Hürde stabil, während die aktuelle Ampel-Regierung stetig mit ihrer Unterschiedlichkeit kokettiert.

  • Vergleich mit anderen Demokratien: In vielen Demokratien existieren Sperrklauseln unter 5 Prozent, die ebenfalls stabile politische Verhältnisse gewährleisten. Es gibt auch keine historischen Herleitungen, denn im Jahr 1953, als die Hürde im Bund eingeführt wurde, gab es in anderen Ländern kaum vergleichbare Mechanismen in ähnlicher Höhe. Die 5 Prozent-Sperrklausel ist in gewissem Sinne ein willkürlich gewählter Wert, der gegen den Willen der kleineren Parteien von den größeren beschlossen wurde.

  • Leichtere Regierungsbildung: Es mag auf den ersten Blick widersinnig wirken, aber einige Parteien mehr könnten sich positiv auf eine gelungenere Regierungsbildung auswirken. Seit 2013 werden in Deutschland die Regierungen mehr oder weniger aus der Not herausgebildet. Entweder durch große Koalitionen (2013 – 2021) oder durch das momentane Ampel-Bündnis, das inhaltlich erhebliche Probleme hat. An dieser Stelle könnten wenige neue Parteien politisch klar ausgerichtete Regierungen ermöglichen, die im Moment nicht denkbar sind. Aber machen wir es konkret und ziehen für dieses Gedankenspiel, die beiden Parteien hinzu, die sich bei der Europawahl in Reichweite der 3 Prozent befanden und im Moment nicht im Bundestag vertreten sind. Man stelle sich vor, in der aktuellen Regierung würde VOLT die FDP ersetzen oder aber die CDU/CSU hätte 2025 nicht nur die FDP, sondern auch die Freien Wähler als potentiellen Koalitionspartner. Wären solche Bündnisse nicht inhaltlich klarer und könnten sie nicht dazu beitragen, die langjährige Starre aufzulösen?

  • Die politischen Ränder werden geschwächt: Die 5 Prozent-Hürde zwingt viele Wähler zum taktischen Urnengang, denn einerseits sind Stimmen für die „Sonstigen“ verloren, andererseits präferiert man vielleicht eine Partei, lehnt aber gewisse Koalitionsvarianten, eine potenzielle, die in diesem Jahr für Aufmerksamkeit gesorgt hatte, wäre CDU/CSU-Grüne für 2025, ab. Völlig neutral betrachtet, könnte manch Wähler, wir bleiben bei dem konkreten Beispiel, nun die Ansicht gewinnen, dass auch eine schwarz-konservative Wahl am Ende ein teilweises Ampel-Revival bieten könnte. Vielleicht bleibt den Parteien mangels Alternativen auch nichts anderes übrig. Derartiges könnte frustrieren und eine Ohnmacht erzeugen. Derartiges stärkt in der Regel die Ränder. Eine Absenkung der Sperrklausel würde das Angebot erweitern und damit auch Ausweichmöglichkeiten schaffen, ohne in den Protest abgleiten zu müssen.

  • Erhöhte Akzeptanz des demokratischen Systems: Wird die eigene Stimme wichtiger und ist die Auswahl größer, hat dies wohl auch einen gewissen Einfluss auf die Akzeptanz des politischen Systems und das persönliche Gefühl der Teilhabe.

In der Summe gibt es nicht nur verfassungsrechtliche, sondern zahlreiche weitere Gründe, die für eine Absenkung sprechen. Erneut soll allerdings betont werden, dass dies nur eine Möglichkeit ist, das Wahlrecht umzugestalten und vielleicht auch nicht unbedingt jene, welche die im Bundestag etablierten Parteien bevorzugen würden. Letztendlich ist das auch ein Grund, warum sie erst einmal nicht kommen wird.

Grundsätzlich ist das aber keine Diskussion des politischen Establishments, sondern eine, die der Souverän antreiben muss, denn kaum eine Elite würde sich im Zweifelsfall selbst beschneiden. Letzteres ist ein unvermeidbares Dilemma einer repräsentativen Demokratie, das aber behoben werden kann. Es ist daher realistisch betrachtet Sache des Volkes, demokratische Reformen vorzuformulieren und anschließend Mehrheiten für deren Umsetzung zu gewinnen.

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