Die größten Skandale der Bundestagsgeschichte: Prügel, Beleidigungen und Nazi-Vergleiche

Vor allem der alte Plenarsaal des Bundestags in Bonn hat so manch schweres politisches Gefecht mit anschauen müssen. In der Berliner Republik geht es bis jetzt etwas gesitteter zu. (Bild: REUTERS)
Vor allem der alte Plenarsaal des Bundestags in Bonn hat so manch schweres politisches Gefecht mit anschauen müssen. In der Berliner Republik geht es bis jetzt etwas gesitteter zu. (Bild: REUTERS)

In manchen Parlamenten sind lautstarkes Geschrei und handfeste Auseinandersetzungen fast Teil des politischen Alltags. Das wirkt in Deutschland kaum noch vorstellbar, doch in der 70-jährigen Geschichte des Bundestags gibt es auch so manchen Eklat.

Seit 70 Jahren gibt es den deutschen Bundestag, ab 1949 in Bonn, mittlerweile seit über 20 Jahren in Berlin. Den meisten werden die langwierigen Live-Übertragungen aus typischen aktuellen Bundestagssitzungen eher langweilig erscheinen. Doch das war nicht immer so, denn die Geschichte der Abgeordnetenversammlung hat es durchaus in sich. Zwar gab es die letzte Prügelei im Bundestag im Jahr 1950. Aber ruhig war es deswegen unter den Parlamentariern noch lange nicht immer.

Rüpelhafte Anfangsjahre

In den Anfangstagen der jungen Bundesrepublik ging es im Bundestag ziemlich rau zu. Bereits im November 1949 kam es zu einem Eklat, als der SPD-Fraktionsvorsitzende Kurt Schumacher seinen Kontrahenten Konrad Adenauer als “Lügner” und als “Bundeskanzler der Alliierten” bezeichnete und dafür für ganze 20 Tage von den Sitzungen des Bundestags ausgeschlossen wurde.

Die konstituierende Sitzung des Bundestags am 7. September 1949 (Bild: AP Photo/Sorsche/Jaeger)
Die konstituierende Sitzung des Bundestags am 7. September 1949 (Bild: AP Photo/Sorsche/Jaeger)

Die Mischung des ersten Bundestages war sowieso nicht ohne. Vor der Fünfprozenthürde waren außer SPD, Union und Liberalen in insgesamt zehn Fraktionen auch noch Kommunisten und zahlreiche ehemalige NSDAP-Mitglieder vertreten. Da konnte es schon mal zu handgreiflichen Auseinandersetzungen im Parlament kommen. Die berühmteste passiert am 10. März 1950: Wolfgang Hedler, der kurz zuvor wegen antisemitischer Äußerungen aus der nationalkonservativen DP geflogen war, versuchte sich trotz eines Ausschlusses Zugang zum Bundestag zu verschaffen. Daraufhin schritten mehrere SPD-Abgeordnete ein, darunter auch der nicht als zaghaft bekannte Herbert Wehner. Hedler fiel im anschließenden Handgemenge durch eine Scheibe und eine Treppe hinunter und zog sich eine Platzwunde zu.

Diese bewegten ersten Jahre sind durchaus auch produktiv, doch die Geburtswehen der jungen Demokratie verlaufen im Parlament unruhig. Nach der ersten Legislaturperiode 1953 stehen über 150 Ordnungsrufe, 40 Wortentziehungen und immerhin 17 Sitzungsausschlüsse zu Buche, so viele, wie seitdem nie wieder.

Sogar zu einer Verhaftung im Plenarsaal kam es in dieser Zeit. Am 20. Februar 1952 wurde ein Abgeordneter der rechtsextremen SRP, Dr. Franz Richter, während einer Bundestagssitzung festgenommen. Seine Immunität war aufgehoben worden, nachdem herauskam, dass es sich eigentlich um den ehemaligen Nationalsozialisten Fritz Rößler handelte, der sich nach Erschleichung einer falschen Identität in den Bundestag hatte wählen lassen. In diesem Fall brauchte es allerdings lediglich einen regulären Polizeieinsatz und nicht die handfeste Unterstützung anderer Abgeordneter.

Herbert Wehner spricht im März 1958 im Bundestag (Bild: AP Photo/STF)
Herbert Wehner spricht im März 1958 im Bundestag (Bild: AP Photo/STF)

Apropos Wehner, das streitlustige Hamburger SPD-Urgestein sorgte für so manche heftige Auseinandersetzung im Bundestag, auch wenn es nie wieder so rabiat werden sollte, wie im ersten Jahr. Fast sechzig mal wurde Wehner zur Ordnung gerufen, so oft wie kein anderer Politiker. Allerdings saß der ehemalige KPD-Politiker auch von 1949 bis 1983 im Bundestag. Legendär ist dabei sein Einfallsreichtum in puncto Beleidigungen. Den CSU-Staatssekretär Erich Riedl fuhr Wehner an mit: “Sie verwechseln wohl den Bundestag mit der Oktoberwiesn, Sie Flaschenkopf!“ Den CDU-Abgeordneten Jürgen Wolhlrabe taufte er kurzerhand um in "Übelkrähe".

Überhaupt waren die großen Reden und heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Politikgrößen der jungen Bundesrepublik weitaus häufiger als heute vorstellbar. Helmut Schmidt war schon vor seiner Zeit als Bundeskanzler ein Meister der verbalen Attacke. Besonders mit dem CSU-Granden Franz Josef Strauß lieferte sich Schmidt legendäre Wortgefechte. 1962 hatten die Duelle ein abruptes Ende. Strauß musste im Rahmen der sogenannten “Spiegel-Affäre” zurücktreten, es war einer der größten Skandale der Nachkriegsgeschichte.

Frauen in Hosen, Sonnenblumen und “Arschloch”-Affäre

Für Eklats sorgte danach eine neue Generation. Für einen historischen Moment sorgte vor gut 50 Jahren die hannoversche Bundestagsabgeordnete Lenelotte von Bothmer. Die SPD-Politikerin wagte es am 14. Oktober 1970, als erste Frau in Hosen vor den Bundestag zu treten. Der Aufschrei war riesengroß. Einige sahen die Würde der Institution in Gefahr, andere, wie der Bundestagsvizepräsident Richard Jaeger (CSU) gleich die Würde der Frau an sich. Dabei war Jaeger durchaus selbst mit verantwortlich, denn er hatte lauthals proklamiert, er werde niemals einer Frau erlauben, in Hosen im Plenum zu sprechen. Lenelotte von Bothmer hatte dazu offensichtlich eine etwas andere Meinung und brach mit den verkrusteten Traditionen der Bonner Republik, die schon längst nicht mehr dem Gesellschaftsbild der Zeit mithalten konnten.

Die Grünen-Abgeordneten Gabi Gottwald und Petra Kelly demonstrieren während der Regierungserklärung Helmut Kohls am 14. Mai 1983 gegen die Unterstützung der US-Intervention in Nicaragua (Bild: AP Photo)
Die Grünen-Abgeordneten Gabi Gottwald und Petra Kelly demonstrieren während der Regierungserklärung Helmut Kohls am 14. Mai 1983 gegen die Unterstützung der US-Intervention in Nicaragua (Bild: AP Photo)

Noch ungewöhnlicher als der Anblick einer Frau in Hosen war dann ein Jahrzehnt später der Einzug der Grünen-Fraktion ins Parlament. 1983 eroberte die neue Partei den Bundestag und stellte mit 28 Abgeordneten erstmals seit 1957 eine vierte Fraktion. Im Schlepptau: Wollpullover, Sonnenblumen und die Zweige einer umweltkranken Tanne, Symbol für das Baumsterben. Die Handvoll Alternativer veränderte das Bild der alten Republik nachhaltig und läuteten eine Zäsur in der deutschen Politik ein.

Doch die Grünen sorgten nicht nur mit ihrem ungewohnten Auftreten für gehobene Augenbrauen. Der prominenteste und vielleicht kampfeslustigste unter ihnen, Joschka Fischer, schrieb sich 1984 in die Skandalgeschichte des Bundestags ein. Der spätere Außenminister ließ sich zur bekanntesten Beleidigung der Neuzeit hinreißen, nachdem ihm der Vizepräsident Richard Stücklen das Wort entzogen hatte: “Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub!”

Im Alter etwas zahmer, doch auch in seiner Zeit als Außenminister kam der berüchtigte "Fischer-Finger" noch oft im Bundestag zum Einsatz. (Bild: REUTERS/Alexandra Winkler AX/JOH)
Im Alter etwas zahmer, doch auch in seiner Zeit als Außenminister kam der berüchtigte "Fischer-Finger" noch oft im Bundestag zum Einsatz. (Bild: REUTERS/Alexandra Winkler AX/JOH)

Auch wenn der notorische Turnschuhträger Fischer die Grobheit am nächsten Tag zurück nahm, bliebt sie doch im kollektiven Gedächtnis haften. Weil die Sitzung schon unterbrochen war, findet sich die historische Äußerung Fischers allerdings nicht im offiziellen Protokoll wieder. Mit zwölf Ordnungsrufen liegt Fischer übrigens auf dem dritten Rang der am meisten zu recht gewiesenen Parlamentarier.

Hammelsprünge und Liedermacher

Eher ein Mann für das Aussitzen von Skandalen, als wortreiche Duelle war Helmut Kohl, der einst durch einen einmaligen Vorgang ins Amt gekommen war, als Helmut Schmidt 1982 durch ein kollektives Misstrauensvotum im Bundestag des Amtes enthoben wurde. Sechzehn Jahre später verlor Kohl dann die Wahlen gegen Gerhard Schröder (SPD), der mit den Grünen eine neuartige Koalition einging. Die CDU-Spendenaffäre läutete endgültig das Ende der Ära Kohl ein, doch dank des beharrlichen Schweigens des Alt-Kanzlers kam es nicht zu einem Eklat im Plenarsaal.

Mit dem Umzug nach Berlin 1999 sank die Skandaldichte im Bundestag im Vergleich zur alten Bonner Republik ein wenig. Dafür musste dann schon mal Taktikgeplänkel herhalten. Ein beliebtes Mittel, um unliebsame Anträge zu blockieren, ist der sogenannte Hammelsprung. Bei diesem Modus verlassen die Parlamentarier den Saal und betreten ihn je nach Abstimmungsverhalten durch unterschiedliche Eingänge - so kann exakt abgezählt und vor allem festgestellt werden, ob das Parlament überhaupt beschlussfähig ist. Eine Entscheidung lässt sich dabei aushebeln, indem Fraktionen geschlossen den Saal verlassen und der Abstimmung fernbleiben, wodurch der Bundestag beschlussunfähig wird.

Demonstriert haben diese Technik zum Beispiel die Fraktionen von SPD und Grünen im Jahr 2012. Damit gelang es ihnen, den Beschluss über das umstrittene Betreuungsgeld zu verschieben. Die politische Gegenseite tobte. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt nannte den taktischen Kniff ein “kleines, dreckiges Foul-Spiel der Opposition.”

Wolf Biermann sorgte mit seiner Schelte der Linksfraktion für Aufsehen (Bild: Reuters/Fabrizio Bensch)
Wolf Biermann sorgte mit seiner Schelte der Linksfraktion für Aufsehen (Bild: Reuters/Fabrizio Bensch)

Für wenigstens ein bisschen Aufregung sorgte 2014 der Auftritt des Liedermachers Wolf Biermann im Bundestag. Biermann sprach zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls. Eingeladen hatte ihn offensichtlich unabgesprochen Bundestagspräsident Norbert Lammert. Und der schnauzbärtige Biermann lederte los und zwar in unerwartete Richtung. Sein Zorn traf die Linksfraktion, der er den Spiegel vorhielt und sie zu den eigentlich reaktionären Politikern erklärte. Mit Bezug auf die DDR nannte er die Linksfraktion den “elenden Rest dessen, was zum Glück überwunden ist.” Doch die Merkel-Jahre sorgen sonst mit dem gemäßigten Diskussionston und Langzeit-GroKos für wenig Unterhaltsames, was die Bundestags-Skandale angeht.

Die AfD und die Wiederbelebung der Polemik

Nachdem es in den vergangenen Jahrzehnten relativ gesittet im Bundestag zuging, zog mit der AfD eine neue Welle der Polemik und Streitkultur ein. Allein Alexander Gauland schaffte es in seinem ersten Jahr als AfD-Vorstandsvorsitzender im Bundestag auf über 400 Zwischenrufe. Und das waren bei weitem nicht die einzigen Eklats, die durch die AfD Fraktion entstanden. 2018 sorgte die AfD-Fraktion für skandalöse Bilder, als sie während der Holocaust-Gedenkstunde Rednern demonstrativ den Applaus verweigerten.

Erst im November 2019 wurde der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner seines Amtes als Vorsitzender des Rechtsausschusses enthoben. Es war ein einmaliger Vorgang in der 70-jährigen Geschichte des Bundestages. Brandner war wiederholt durch seine provokanten und menschenverachtenden Aussagen aufgefallen, so dass er schließlich von den anderen Mitgliedern des Ausschusses abgewählt wurde.

Für Provokationen im Bundestag ist heute vor allem die AfD-Fraktion zuständig (Bild: Reuters/Fabrizio Bensch)
Für Provokationen im Bundestag ist heute vor allem die AfD-Fraktion zuständig (Bild: Reuters/Fabrizio Bensch)

Die AfD-Abgeordneten sorgen ohne hin gerne für Provokation. Beatrix von Storch nennt andere Parlamentarier schon mal “Terroristen”, ihr Kollege Bernd Baumann sorgte gleich in der allerersten AfD-Bundestagsrede mit seinem hinkenden Göring-Vergleich für ziemlichen Ärger – und Aufmerksamkeit. Unangebrachte Nazivergleiche sind indes keinesfalls innovativ, schon Otto Schily musste sich 1983 als frisch eingezogener Grünen-Parlamentarier vom CDU Kollegen Dietmar Kansy als “Mini-Goebbels” bezeichnen lassen.

Momentan teilen sich erstmals seit 1957 wieder sechs Parteien die insgesamt 709 Sitze, die Zeit der Großen Koalition scheint begrenzt - möglicherweise kommen nun wieder ähnlich stürmische Zeiten wie in den Anfangsjahren auf den Bundestag zu.