„Diese Pipeline war Putins größter Coup“ - Nach brisanter Selenskyj-Enthüllung: Reporter erklärt seine Nord-Stream-Recherche
Die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines ist eine der größten Sabotageaktionen der jüngeren Geschichte. Bojan Pancevski vom „Wall Street Journal“ enthüllt, dass ukrainische Militärs den Plan schmiedeten. In einem Podcast erklärt er nun, warum er sich damit so sicher ist.
Die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee gilt als größte Sabotageaktion der jüngeren Vergangenheit. Bojan Pancevski, Reporter für das „Wall Street Journal“ (WSJ), hat die Hintergründe des Anschlags ans Licht gebracht und damit für Aufsehen gesorgt.
Der Journalist sagt, ein ukrainischer General entwickelte die Pläne und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe darüber Bescheid gewusst . Seine Recherchen zeigen außerdem, dass die Idee für den Anschlag in einer Feierlaune entstand. Trotz eines amerikanischen Warnanrufs wurden die Pläne letztlich von Selenskyj nicht gestoppt.
Im Podcast von Paul Ronzheimer, Reporter der „Bild“-Zeitung, erläutert Pancevski nun, warum er hinter seiner Recherche steht und sich sicher ist, dass Selenskyj involviert war.
Idee zum Nord-Stream-Anschlag soll in Partynacht entstanden sein
Zunächst, was offenbar passiert ist: Im Mai 2022 trafen sich der Recherche zufolge hochrangige ukrainische Militärs und Geschäftsleute, um die erfolgreiche Verteidigung der Ukraine gegen Russland zu feiern. Die von reichlich Alkohol begleitete Feier habe zu einer patriotischen Euphorie geführt, in der – so berichtet das „Wall Street Journal“ – die Idee aufkam, die Nord-Stream-Pipelines zu sabotieren.
Ein ukrainischer Militär, der anonym bleiben wolle, habe zugegeben, dass er lachen müsse, wenn er Spekulationen über eine groß angelegte Operation mit Geheimdiensten, U-Booten und Drohnen lese. Letztlich sei die ganze Operation aus einer durchzechten Nacht und dem festen Willen einer kleinen Gruppe von Menschen entstanden, die bereit seien, für ihr Land alles zu riskieren.
Tatsächlich explodierten vier Monate später, am 26. September 2022, mehrere Sprengladungen in der Ostsee nahe der dänischen Insel Bornholm und vor der Küste Südschwedens. Die Explosionen verursachten vier große Lecks in den Pipelines, die russisches Gas durch Nord Stream transportiert hatten.
Ex-General Walerij Saluschnyj: Behauptungen seien „reine Provokation“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe den Plan zunächst gebilligt, dann aber versucht, ihn zu stoppen, heißt es weiter. Laut „WSJ“ und vier mit der Angelegenheit vertrauten Personen sei das alles innerhalb weniger Tage passiert. Walerij Saluschnyj, der damalige Oberbefehlshaber, soll den Plan auf eigene Faust weiterverfolgt haben.
Saluschnyj, der später auch als Rivale Selenskyjs galt, bestreitet heute jegliche Kenntnis von der Operation und bezeichnet entsprechende Behauptungen als „reine Provokation“.
Pancevski untermauert nun im Podcast: „Meine Recherchen zeigen, dass Selenskyj davon wusste.“ Den Anruf der Amerikaner, dass die Ukraine den Plan zur Zerstörung der Pipeline stoppen solle, habe es ebenfalls gegeben.
Selenskyj informierte laut Pancevski daraufhin das Militär, aber der Plan wurde dennoch durchgeführt. Es sei demnach möglich, dass Selenskyj überrascht war, als die Pipeline am 26. September 2022 gesprengt wurde, „aber das kann ich nicht beurteilen“.
„Ich glaube nicht, dass sich Politiker direkt eingemischt haben“
Die Intervention, die schließlich im Juni 2022 von den Amerikanern, Selenskyjs wichtigsten Verbündeten, nach einem Tipp des niederländischen Geheimdienstes in Richtung Kiew erfolgte, habe „auf technischer Ebene, was immer das bedeutet“ stattgefunden, sagt Pancevski. Die USA baten Kiew also, den Plan fallen zu lassen.
„Wie genau das ablief, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass sich Politiker direkt eingemischt haben.“ Auf die Frage, wie glaubwürdig es sei, dass Selenskyj seinen Militärs sagte, den Anschlag nicht durchzuführen, und sie sich nicht daran hielten, antwortet der Journalist:
„Warum sollte das seltsam klingen? In jener Phase des Krieges hatten sowohl Selenskyj als auch General Saluschnyj reichlich zu tun. Selenskyj arbeitete aus einem Atombunker, während Saluschnyj in seinem Büro im Hauptquartier war. Beide mussten Tausende Entscheidungen täglich treffen. […]“ Es sei plausibel, dass der General Sachen eigenmächtig entschied, ohne den Präsidenten zu konsultieren.
Pancevski stellt klar: „Ich weiß nicht, wie sie denken. Sie befanden sich in einem existenziellen Kampf. Für uns ist es leicht, das aus der Ferne zu analysieren, aber für sie ging es um das nackte Überleben. […] Die Sprengung war vielleicht ein kleines Projekt, das im Trubel des Krieges nicht die höchste Priorität hatte.“
„Für die Ukrainer war Nord Stream ein legitimes militärisches Ziel“
Warum die Ukrainer diesen drastischen und vor allem geopolitisch höchst relevanten Schritt getan haben, liegt für den Journalisten auf der Hand: „Für die Ukrainer war Nord Stream ein legitimes militärisches Ziel, da die Gasexport-Einnahmen Russlands direkt in Putins Kriegsmaschine fließen. Aus deutscher Perspektive sieht das anders aus, aber für die Ukrainer war es ein legitimes Ziel.“
Die Perspektive spielt bei der Sabotage-Aktion eine entscheidende Rolle. Der Insider habe etwa gesagt, dass alle Beteiligten Orden bekommen sollten und dass sie Helden seien, berichtet Pancevski aus den Gesprächen.
Der Journalist selbst sagt: „Diese Meinung wird von anderen Beteiligten geteilt, und ich denke, dass auch die Mehrheit der Ukrainer so denkt. Das ist die Mentalität in dieser Angelegenheit.“
„Die Ukraine wollte Deutschland nicht schaden, sondern Russland“
Die Operation, die rund 300.000 Dollar gekostet haben soll und laut Insider von Geschäftsleuten finanziert wurde, zielte auf die Pipeline eines Landes – Deutschland – das der Ukraine im Krieg gegen Russland viel Geld und Waffen liefert. Auf die Frage hin, ob das bei den Überlegungen keine Rolle spielte, antwortet Pancevski:
„Zu dem Zeitpunkt war Deutschland noch kein so großer Unterstützer der Ukraine wie heute. […] Die Ukraine hatte ihre Kriegsziele im Fokus, wichtig war ihnen, die Geldeinnahmen Putins zu stoppen. Die Ukraine wollte Deutschland nicht schaden, sondern Russland. Das war die Idee.“
Für die Aktion mieteten die Beteiligten schließlich die Yacht „Andromeda“ an. „Über vieles, was ich weiß“, sagt Pancevski, „habe ich nicht geschrieben und kann ich aus rechtlichen und ethischen Gründen nicht sprechen“. Das Boot sei aber in Rostock angemietet worden.
„Die Besatzung bestand aus sechs Leuten: fünf Männer und eine Frau. Vier davon waren Zivilisten, zwei Militärs, und mindestens vier waren professionelle Taucher. Das Boot war ausgestattet mit Tauchequipment und einem GPS-Navigationsgerät. Der verwendete Sprengstoff, HMX, ist sehr zuverlässig, wird oft unter Wasser eingesetzt und ist sehr leicht. Man braucht nur wenig davon. Das war alles – einfach und effizient“, so der Journalist.
„Einen solchen Haftbefehl bekommst du nur mit einer 100-prozentigen Sicherheit“
Gegen eine der beteiligten Personen liegt ein Haftbefehl vor. Kurios hierbei: Der Mann, der zur Fahndung ausgeschrieben ist, habe zumindest temporär in Polen, in der Nähe von Warschau, gelebt. Am 21. Juni letzten Jahres wurde der Haftbefehl von den deutschen Behörden erteilt und den polnischen Kollegen übergeben. Polen hat dies bestätigt, aber nicht gehandelt.
Ein polnischer Staatsanwalt soll laut Pancevski gesagt haben, dass ein Formfehler bei den deutschen Unterlagen vorlag, was die Handlung der polnischen Behörden beeinflusste. „Das ist allerdings schwer zu glauben, da deutsche Behörden normalerweise sehr gründlich arbeiten.“
Was er erstaunlich findet: Die Tatsache, dass die deutschen Ermittler von null angefangen haben und es geschafft haben, nicht nur die Tatverdächtigen zu identifizieren, sondern auch genügend Beweise zu sammeln, um einen Haftbefehl zu erwirken.
Der Generalbundesanwalt ist für den Fall zuständig, da es sich um verfassungsfeindliche Sabotage handelt. „Einen solchen Haftbefehl bekommst du in Deutschland nur mit einer hundertprozentigen Sicherheit.“
„Soweit ich weiß, sind alle Beteiligten jetzt in der Ukraine“
Dennoch ließen die polnischen Behörden den Mann in die Ukraine fliehen. „Soweit ich weiß, sind alle Beteiligten jetzt in der Ukraine“, sagt der Journalist.
Ein fader Beigeschmack bleibt also: Denn Polen war in den vergangenen Jahren immer ein erbitterter Gegner von Nord Stream 2. Alle Regierungen haben massive Kritik am Bau geübt, bereits vor dem Krieg in der Ukraine.
Ob Deutschlands Nachbarn bei der Nord Stream-Sabotage also zumindest eine passive Rolle spielten, sei schwer zu sagen, meint Pancevski. „Die Pipeline war in vielen Ländern, insbesondere im Osten Europas, nicht populär. Nord Stream 1 war schon unpopulär, Nord Stream 2 war ein absoluter Hammer für die meisten Länder.“
Viele haben nicht verstehen können, warum die Regierung von Angela Merkel das Projekt vorangetrieben habe. „Es ist wie bei ‚Mord im Orient-Express‘ von Agatha Christie: Jeder könnte ein Motiv haben und viele sind zufrieden, dass das Opfer tot ist. So scheint die Lage auch hier zu sein“, sagt der „WSJ“-Journalist.
Was gegen Russland spricht: „Diese Pipeline war Putins größter Coup“
Die Theorie, dass Russland hinter dem Anschlag steckt, hielt Pancevski schon immer für absurd. „Was hätte Russland davon? Es ist kompletter Quatsch. Westliche Geheimdienste glauben mittlerweile, dass die Russen von der geplanten Operation Wind bekamen und ihre Schiffe entsandten, um die eigene Pipeline zu schützen.“
Aus seiner Sicht gibt es keine Zweifel. Im Gegenteil: Es gebe viele Quellen, Indizien und Beweise, sowie den Haftbefehl. „Vielleicht folgen weitere Haftbefehle aus Deutschland. Die Sache ist ziemlich klar. Diese Pipeline war Putins größter Coup, sie hat Westeuropa, vor allem Deutschland, eng an Russland gebunden und sie abhängig von russischen Energieexporten gemacht“, so Pancevski.
Russland denke langfristig, und nach dem Krieg könnten die Deutschen wieder Gas von Russland kaufen wollen. Die Abhängigkeit war Teil von Putins Plan, daher ergebe die Zerstörung der Pipeline für Russland keinen Sinn.