„Doomsday“-Gletscher - Ein Gletscher am Ende der Welt entscheidet, wie wir in Zukunft leben werden
Der Thwaites-Gletscher könnte in den nächsten 200 Jahren ins Meer kippen. Und nach ihm die gesamte westliche Antarktis - der weltweite Meeresspiegel würde um drei Meter steigen. Bringt der „Doomsday“-Gletscher also tatsächlich den Weltuntergang? Klimaforscher warnen vor Panikmache - noch sei Zeit, das Schlimmste zu verhindern.
16.486 Kilometer ist Hamburg vom Thwaites-Gletscher in der westlichen Antarktis entfernt. Dennoch könnten die Menschen in der Hansestadt in den kommenden 100 bis 200 Jahren enger mit dem 192.000 Quadratkilometer großen zentralen Bremsblock in der Westantarktis in Berührung kommen, als ihnen lieb sein kann.
Der Thwaites-Gletscher schmilzt seit Jahren durch das wärmere Meerwasser, das eine Folge des menschgemachten Klimawandels ist. Normalerweise ist die Ozeanerwärmung vor allem ein Problem für die Arktis am Nordpol, denn dort schwimmen die Eisflächen im offenen Meer und schmelzen im Sommer immer stärker vor sich hin.
Beunruhigende Beobachtungen am Thwaites-Gletscher
Am Südpol liegt das Eis jedoch auf dem Festland auf und wird nur am Rand vom Wasser umspült. Das Eis der Antarktis hatte daher bislang kaum auf die Erwärmung des Meerwassers reagiert. Für den Osten des Kontinents gilt das noch immer: Hier ragt ein erheblicher Teil des Festlands mehrere hundert Meter über das Wasser hinaus, das Eis ist geschützt. Die westliche Antarktis liegt hingegen unter dem Meeresspiegel, das Eismassiv ist von Wasser umgeben.
Beunruhigende Zahlen vermelden die Forscher seit Jahren von einem zentralen Teil der westlichen Antarktis, dem Thwaites-Gletscher. Er liegt weit entfernt von einer Forschungsstation in der Eiswüste der Antarktis und ist schwer erreichbar. Die Forscher beobachten ihn daher hauptsächlich mit Flugzeugen und Schiffen sowie mit Hilfe von Satelliten. Dabei stellen sie fest, dass er unter der Wasseroberfläche schmilzt, und dass sein Schmelzwasser schon vier Prozent zum globalen Meeresanstieg beigetragen hat.
Das ist keine Kleinigkeit. „Die Zahl verdeutlicht, wie wichtig der Thwaites für den gesamten Meeresspiegelanstieg bereits ist“, sagt Olaf Eisen vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven im Gespräch mit FOCUS online Earth. Der Glaziologe ist einer der besten Kenner des Gletschers.
„Kettenreaktion mit dramatischen Folgen“
2018 gründeten Forscher die International Thwaites Glacier Collaboration (ITGC), um der Sache buchstäblich auf den Grund zu gehen. Bohrungen an der vorgelagerten 600 Meter dicken Schelfeiszunge des Gletschers ergaben 2020: Das Schelfeis wird von warmem Tiefenwasser unterspült und schmilzt. Das ist deswegen besonders gefährlich, weil das Schelfeis für den Thwaites-Gletscher gleichsam Schutzschild wie Stütze ist. „Diese Stützfunktion hat das Schelfeis bereits verloren“, sagt Eisen.
Schon vor vier Jahren haben die Wissenschaftler gefährliche Risse in diesem Schelfeis-Schutzschild entdeckt und ihn mit einer Windschutzscheibe verglichen, bei der ein Steinschlag zum Zerplatzen der Scheibe führen kann. Bricht die Schelfeiszunge ab, verliert der Thwaites-Gletscher seinen Halt auf dem Festland-Untergrund und gleitet nach und nach ins Meer. Die gesamte Westantarktis könnte folgen.
Eine Kettenreaktion mit potenziell dramatischen Konsequenzen: „Kollabiert der Thwaites-Gletscher, könnte der Meeresspiegel um 65 Zentimeter steigen“, sagt Eisen. „Die größere Gefahr droht aber durch das dann einsetzende Abschmelzen der Westantarktis. Es könnte zu einem Meeresspiegelanstieg von 3,50 Meter führen“, skizziert der Glaziologe, der auch als Professor an der Universität Bremen lehrt. Der Thwaites-Gletscher ist damit die wichtigste Barriere gegen den weltweiten Anstieg des Meeresspiegels. Sie droht verloren zu gehen, sagt Eisen.
New York und Hamburg unter Wasser
Eine apokalyptische Vorstellung: Vietnam, Bangladesh, New York, Mumbai, die Niederlande oder auch Hamburg stünden unter Wasser. Das US-Magazin „Rolling Stone“ taufte den Thwaites-Gletscher daher bereits 2017 um: in Weltuntergangs-Gletscher, „Doomsday-Gletscher“.
Seit Mai dieses Jahres scheint dieser Untergang noch näher zu rücken: Nach einer neuen Studie ist der Thwaites-Gletscher in der westlichen Antarktis noch gefährdeter als bislang angenommen. In der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ beschreiben Forscher, wie sich das Meerwasser viele Kilometer weit unter das Eis des Gletschers presst. Das Problem: Am Ende der Schelfeiszunge steigt der Untergrund nicht an, sondern fällt rund 1,5 Kilometer ab.
„Das Ozeanwasser kommt an der Aufsetzlinie des Gletschers mit dem Eis in Kontakt und führt zum Schmelzen“, erklärt Eisen. Der Thwaites-Gletscher liegt sozusagen in einer Badewanne mit warmem Wasser. Satellitenbilder machen bereits sichtbar, wie der Gletscher unter dem Druck des Wassers ansteigt, sinkt und sich verbiegt.
Und jetzt? Wann rutscht der Thwaites-Gletscher ins Meer und hebt den Meeresspiegel um mehr als einen halben Meter an? Was muss getan werden, um das Schlimmste zu verhindern? Die Forschung ist sich unsicher über die Zeitspanne, die der Menschheit bleibt. „Wir können nur schwer voraussagen, wie schnell der Thwaites-Gletscher vollständig abschmilzt. Es kann 200 Jahre dauern oder 500“, sagt Eisen. Klar sei: „Unser heutiges Verhalten bestimmt den Meeresspiegel in 50 Jahren.“
Es droht kein „Weltuntergang“
Der „Weltuntergang“ stünde aber selbst bei einem Meeresspiegelanstieg von 65 Zentimeter nicht bevor: „Er könnte vermutlich noch verkraftet werden“, sagt Eisen. Zumal die Menschen noch „genug Zeit haben, sich darauf einzustellen und Vorkehrungen zu treffen“, so der Glaziologe. Auch die Gletscherforscherin Julia Wellner von der University of Houston hielt die Situation zumindest bis vor kurzem für noch „nicht alarmierend“.
Wie begründet dieser Optimismus ist, bleibt zweifelhaft. Insgesamt scheint die Forschung im ewigen Eis noch sehr im Dunkeln zu tappen. Der Meeresboden ist in der Region noch kaum erforscht. Klar sei aber schon jetzt: „Es wird für den Küstenschutz sehr herausfordernd“, sagt Eisen. Denn zum Meeresspiegelanstieg kämen Sturmflut, Starkregenereignisse und Hochwasser hinzu.
Darauf stellten sich die reichen Länder sowieso schon seit Jahren ein. Länder ohne Infrastruktur sind hingegen auch ohne Thwaites-Kollaps schon jetzt den Folgen des Klimawandels schutzlos ausgeliefert, wie die mehr als 10.000 Toten im nordafrikanischen Küstenstaat Libyen vor zwei Jahren zeigten. Global seien „alle tief liegenden Länder, insbesondere jene ohne ausreichende finanzielle Mittel, um den Küstenschutz auszubauen, besonders gefährdet“, sagt Eisen. „Die Inselstaaten des Pazifiks haben in dieser Hinsicht bereits jetzt den Notstand, Bangladesch ebenfalls.“ Von der Gletscherschmelze und dem Meeresspiegelanstieg seien sie daher besonders betroffen.
Größte Gefahr: Marine Eisschelf-Instabilität
Die größte Gefahr beim Abschmelzen in der Antarktis sieht Eisen bei der „Marinen Eisschelf-Instabilität“ (MISI). Der Kipp-Punkt, an dem die Entwicklung nicht mehr umkehrbar ist und die Westantarktis in den kommenden Jahrhunderten verschwinden wird. „Wie nah wir davor stehen, weiß ich nicht“, sagt der Forscher. „Vielleicht sind wir schon über den Punkt drüber.“
Dieses Worst-Case-Szenario würde für den deutschen Küstenschutz bedeuten, sich bis zum Jahr 2100 auf einen mittleren Meeresspiegelanstieg von 80-100 Zentimeter einzustellen, sagt Eisen. Das heißt: „Die unaufhaltsame Notwendigkeit, regelmäßig teure Maßnahmen zur Erhöhung der Deiche einzusetzen, so lange dies technisch machbar ist.“
Die Schelfeiszunge vor dem Thwaites-Gletscher hat die Wissenschaft schon aufgegeben. „Wir rechnen mit einem Verlust des östlichen Schelfeises und der westlichen Eiszunge innerhalb der nächsten fünf Jahre. Wenn es schnell geht, schon in den nächsten sechs Monaten“, sagt Eisen. Größere Teile des Thwaites könnten noch in diesem Jahrhundert abbrechen, wenn die Eiszunge weiter instabil wird, hält der Weltklimarat IPCC in seinem aktuellen Bericht fest.
Einzige Chance zur Rettung des Thwaites-Gletschers: Reduktion der Treibhausgase
Eisen betont, dass sich ein Meeresspiegelanstieg „über mehrere Jahrhunderte“ vollziehen werde. Es bliebe daher genug Zeit, sich darauf einzustellen. „Die echten Bedrohungen, die über sehr kurze Zeit stattfinden, sind Überflutungen, Dürren und Waldbrände“. Ereignisse wie die aktuellen Überschwemmungen in Mittel- und Osteuropa würden sich häufen. „Und das wird auch in absehbarer Zeit mit fortschreitendem Klimawandel Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln und Wasser nach sich ziehen“, sagt Eisen.
Der Glaziologe sieht nur eine einzige realistische Möglichkeit, das Abrutschen des Gletschers ins Meer zu verhindern: „Die Reduktion der Treibhausgase und eine Rückkehr zum vorindustriellen Klima." Sie seien die Ursache für den „menschgemachten Klimawandel und alle damit einhergehenden Veränderungen und Gefahren“. Der Einfluss des Menschen, den Klimawandel zu stoppen sei genauso groß wie ihn zu verschlimmern. Die Abholzung der Regenwälder zu stoppen oder die Viehwirtschaft zu verändern, die für einen Großteil des Methan-Ausstoßes sorgt, seien nur zwei Beispiele. Prävention sei das wichtigste, denn Studien belegten, dass die immer aufwändigeren Anpassungsmaßnahmen ab 2060 global gesehen „nicht mehr finanzierbar sein werden“.
Die Ozeane seien durch die Treibhausgase besonders gefährdet. 90 Prozent der Energie des menschgemachten Klimawandels hätten die Ozeane bereits aufgenommen, eine weitere Erwärmung müsste sofort gestoppt werden, sagt Eisen. Dies funktioniere nur, wenn die „globalen Treibhausgas-Emissionen auf Netto-Null gesenkt“ werden. „Und dann bliebe zu hoffen, dass wir noch nicht die MISI angestoßen haben, sondern der Gletscher sich noch in einem umkehrbaren Zustand befindet, also wieder vorstoßen kann, sobald die Schmelzraten an der Vorderseite zurückgehen.“
Die Menschen in Vietnam, Bangladesch, New York, Amsterdam oder Hamburg würden aufatmen. Und laut Eisen gibt es dafür auch berechtigte Hoffnung: „Klimawandel ist im öffentlichen Bewusstsein. Es gibt das 1,5 Grad-Celsius-Ziel, wir wissen, wie wir das erreichen können, und dass es eine Vielzahl von positiven Effekten haben wird. Jetzt geht es darum, dieses Ziel zu erreichen.“