Drohende Kürzungen - „Die will doch gar nicht“: Bürgergeld-Empfängerin reagiert auf herbe Leser-Kritik
Vor kurzem haben wir mit Sonja Waszerka, die im Bürgergeldbezug lebt, über die drohenden Kürzungen gesprochen, die im Bürgergeldbezug lebt, über die drohenden Kürzungen gesprochen. Das Interview stieß auf großes Interesse und wurde hundertfach kommentiert. Die 61-Jährige sagte, sie habe Angst, „in diesem Land nicht mehr leben zu können“.
FOCUS online: Frau Waszerka, dürfen wir Sie mit einigen Kommentaren von FOCUS-online-Lesern zum kürzlich mit Ihnen geführten Interview konfrontieren?
Sonja Waszerka: Sehr gerne!
„Der Leistungsgedanke muss wieder in den Vordergrund rücken“, hat ein Leser geschrieben. Wohlstand falle nicht vom Himmel, sondern müsse „erarbeitet“ werden.
Waszerka: Hier wird ein gängiges Vorurteil bedient: Wer Bürgergeld bezieht, will nichts leisten.
Sie meinen den Vorwurf: „Der hockt auf dem Sofa und macht es sich bequem?“ Das waren Ihre Worte im letzten Interview.
Waszerka: Ich glaube wirklich, dass nicht wenige Menschen genau dieses Bild im Kopf haben. Das Vorurteil der Verweigerung.
Aber gibt es das nicht wirklich? Der Regelsatz kann in so einem Fall gekürzt werden, was ja auch passiert.
Waszerka: Ja, aber bleiben wir bei den Fakten: Im vergangenen Jahr wurden gerade einmal 2,6 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten sanktioniert. Die deutliche Mehrheit der Sanktionen, nämlich 84,5 Prozent, wurden verhängt, weil Termine versäumt wurden.
„Es ist schlichtweg falsch, den Leuten Faulheit zu unterstellen!“
Was wollen Sie damit sagen?
Waszerka: Dass es schlichtweg falsch ist, den Leuten Faulheit zu unterstellen! Wer weiß, vielleicht ist jemand in der Familie des Leistungsbeziehenden sehr krank? Es ist leider so, dass Menschen im Bürgergeldbezug sehr viel häufiger krank werden als andere, das weiß ich aus vielen Gesprächen.
So oder so:. Pauschalverurteilungen wie „die will doch gar nicht arbeiten“ gehen an der Wirklichkeit vorbei
„Die will doch eigentlich gar nicht“: Sie haben es selbst angesprochen. Ein weiterer Kommentar klingt so ähnlich. Ich zitiere: „In jeder Zeitung lese ich, dass Erziehungswissenschaftler gesucht werden.“ Sie sind Erziehungswissenschaftlerin…
Waszerka: Der Teufel steckt hier wie so oft im Detail. Ja, ich bin Erziehungswissenschaftlerin. Keine Erzieherin. Das wird leider sehr oft verwechselt.
Richtig ist: In den zehn Jahren, in den ich nun schon arbeitssuchend bin, habe ich kein einziges Stellenangebot gefunden, in dem eine Erziehungswissenschaftlerin gesucht wurde. Und auch das Jobcenter hat mir kein entsprechendes Angebot machen können.
Erzieherinnen und Erzieher werden allerdings gesucht, teilweise händeringend.
Waszerka: Das stimmt, aber ich habe nicht die Fachausbildung, die eine Erzieherin benötigt. Ich habe keine Fachkenntnisse, um die in einer Kita erforderlichen praktischen Angebote wie zum Beispiel Basteln oder musikalische Früherziehung machen zu können.
„In schwierigen Zeiten werden wir Frauen gerne zu allen Arbeiten eingesetzt“
Ohnehin scheinen sich einige Leser zu fragen, ob es denn unbedingt eine Tätigkeit im pädagogischen Bereich sein muss. Noch ein Kommentar: „Fast jeder Supermarkt sucht Aushilfen. Wer gesund ist, kann Arbeit finden!“
Waszerka: Dazu fallen mir zwei Dinge ein. Erstens: Ich finde es bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit hier von jemandem mit Hochschulabschluss gefordert wird, im Supermarkt Regale einzuräumen. Die Achtung der Menschenwürde ist in Artikel eins des Grundgesetzes verankert!
Finden Sie Regale einräumen unwürdig?
Waszerka: Gegenfrage: Wie fänden Sie es, jemandem, der Geschäftsführer eines großen Unternehmens war, zu sagen, er solle ab sofort die Straße kehren?
Mal ehrlich, niemand käme auf die Idee, so etwas zu verlangen. Übrigens, schon deshalb nicht, weil es hier um einen Mann handelt, da bin ich mir sicher.
Es ärgert mich, dass mir als Frau ganz offensichtlich etwas zugemutet werden soll, was man sich bei einem Mann wahrscheinlich nicht einmal zu denken trauen würde. Aber dieses Muster kommt mir bekannt vor: In schwierigen Zeiten werden wir Frauen gerne zu allen Arbeiten eingesetzt…
„Ich war naiv und dachte: 'Servieren, das kriege ich hin.'“
Halten wir fest: Bestimmte Jobs entsprechen nicht Ihrer Qualifikation. Was ist der zweite Punkt, der Ihnen zum Thema „zumutbare Arbeit“ einfällt?
Waszerka: Dass ich vor einiger Zeit in einem Café diesen Aushang gesehen habe: „Serviererin gesucht“. Ich war damals schon einige Zeit ohne Job und ziemlich deprimiert. Ich war recht naiv und dachte: 'Servieren, das kriege ich hin.' Da kann ich mich einarbeiten.
Das Gespräch mit der Chefin des Cafés war ernüchternd. Da ich noch nie im Servicebereich gearbeitet habe, hätte ich keine Chance. In den ersten Wochen würde ich für die Einarbeitung die Kapazitäten einer ganzen Mitarbeiterin binden. Das könne sie sich nicht leisten.
Mich hat nachdenklich gemacht, dass jemand in der damals schon wirtschaftlich schwierigen Situation meinen Einsatz so kategorisch abgelehnt hat. Mit etwas Abstand muss ich allerdings sagen: Es war im Grunde nachvollziehbar, dass es mit dem Job nicht geklappt hat.
Warum?
Waszerka: Es wäre auch anderen Arbeitssuchenden gegenüber nicht fair gewesen, wenn ich in diesem Café angefangen hätte. Und nicht nur hier, anderswo ist es ähnlich.
Schauen Sie: Wenn ich einen Job im Supermarkt machen würde, würde ich anderen, die auf so eine Tätigkeit dringend angewiesen sind, diesen Job wegnehmen. Nehmen wir die Studentin, die mit der Nebentätigkeit ihr Studium finanziert.
Mein Eindruck: Nur wenige, die beim Thema Bürgergeld mit Ideen kommen, denken diese konsequent zu Ende. Die Welt ist viel komplexer, als die Menschen es sich oft wünschen.
„Vom Mietrückstand bis zur Räumungsklage geht es oft erschreckend schnell“
Noch ein Kommentar, diesmal ein anderes Thema: „Warum hat sie (Anm. Frau Waszerka) Angst, die Wohnung zu verlieren, die Miete wird doch vom Staat bezahlt?“
Waszerka: Das erkläre ich gerne. Generell ist es so, dass das Jobcenter die Miete bis zu einer gewissen festgelegten Grenze übernimmt. Liegt die tatsächliche Miete über dieser Grenze, ist es im Ermessen des Jobcenters, ob der Betrag akzeptiert wird.
Klingt so, als wäre das bei Ihnen der Fall?
Waszerka: In meiner kleinen Wohnung habe ich schon gewohnt, als ich noch erwerbstätig war. Also vor dem Leistungsbezug. Und ja, die Miete lag etwas höher als der vom Amt festgelegte Betrag.
Die Mitarbeitenden vom Jobcenter wussten jedoch, dass ich keine Chance gehabt hätte, auf dem Kölner Wohnungsmarkt etwas im vorgesehenen Rahmen zu finden. Daher wurde die Höhe der Miete akzeptiert. Ich konnte bleiben.
Und warum jetzt die Angst, aus der Wohnung zu fliegen?
Waszerka: Das hängt mit der erschreckend hohen Nebenkostenabrechnung zusammen, die ich für das letzte Jahr bekommen habe. Auf Grundlage der Abrechnung muss ich künftig höhere Vorauszahlungen leisten. Heißt: Die Mietkosten steigen insgesamt.
Und Sie können nicht sicher sein, ob das Amt da noch mitgeht?
Waszerka: Genau.
Jobcenter sind allerdings verpflichtet, Leistungsbeziehende vor der Obdachlosigkeit zu bewahren.
Waszerka: Das ist richtig, doch andererseits ist man beim Jobcenter nicht dazu verpflichtet, Leistungsbeziehenden mehr Miete zu bezahlen als das, was in der jeweiligen Stadt als „angemessen“ gilt.
Sie können erkennen: Zwei Verpflichtungen, die sich in die Quere kommen. Fakt ist: Wenn ich meine Miete zwei Monate lang nicht bezahle, kann mir gekündigt werden. Vom Mietrückstand bis zur Räumungsklage geht es oft erschreckend schnell. Meine Angst ist also real.
„Verlierer dieser Entwicklung sind wir letztlich alle“
Apropos: Haben Sie die Kommentare zu Ihrem letzten Interview eigentlich gelesen?
Waszerka: Ja, teilweise. Ich habe mir einen Überblick verschafft.
Was denken Sie darüber?
Waszerka: Ich habe den Eindruck, es schreiben überwiegend die, die sich bestehende Vorurteile bestätigen lassen möchten. Nachdenkliches oder gar Zustimmendes liest man wenig.
Naja, aber ein weiterer Kommentar lautet: „Frau Waszerka spricht Wahrheiten aus, Punkt für Punkt. So unerhört das vielen aus der Bevölkerung erscheinen mag.“
Waszerka: Das freut mich zu hören. Solche anteilnehmenden und solidarischen Äußerungen in einem durch Hetze bestimmten gesellschaftlichen Klima tun gut. Anteile und Solidarität gehen immer mehr verloren. Verlierer dieser Entwicklung sind wir letztlich alle.