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EGMR: Türkei muss Kurden Demirtas freilassen

Der prokurdische Politiker und Präsidentenkandidat bei der diesjährigen Wahl in der Türkei, Selahattin Demirtas, sitzt seit November 2016 wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft. Foto: Sedat Suna/EPA
Der prokurdische Politiker und Präsidentenkandidat bei der diesjährigen Wahl in der Türkei, Selahattin Demirtas, sitzt seit November 2016 wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft. Foto: Sedat Suna/EPA

Nach zwei Jahren Untersuchungshaft muss die Türkei den pro-kurdischen Politiker Selahattin Demirtas entlassen - das zumindest urteilte das Menschenrechtsgericht in Straßburg. Präsident Erdogan scheint das jedoch wenig zu interessieren.

Istanbul/Paris (dpa) - Die Türkei muss den seit rund zwei Jahren in der Türkei inhaftierten Oppositionspolitiker und Erdogan-Kritiker Selahattin Demirtas aus der Untersuchungshaft entlassen. Das urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg.

Das Gericht befand, dass für die Verhaftung des ehemaligen Vorsitzenden der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP zwar begründeter Verdacht bestand, allerdings sei die Dauer der Untersuchungshaft nicht gerechtfertigt.

Demirtas müsse wegen der aktuellen Vorwürfe so schnell wie möglich entlassen werden - es sei denn, die Türkei trage neue Gründe und Beweise für die Inhaftierung vor, so die Straßburger Richter. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wies das Urteil umgehend zurück und bezeichnete es als nicht bindend. Demirtas kritisierte Erdogan aus dem Gefängnis heraus für diese Äußerung. Er ließ zudem mitteilen, das Urteil bestätige, dass er selbst als «politische Geisel» gehalten werde.

HDP-Politiker reagierten auf einer Fraktionssitzung im Parlament in Ankara mit spontanem Jubel und Klatschen auf die Entscheidung. Die Parteivorsitzende Pervin Buldan und Demirtas-Anwalt Mahsuni Karaman forderten die umgehende Umsetzung des Urteils. Karaman schrieb auf Twitter, der Antrag auf Freilassung seines Mandanten sei beim zuständigen Gericht in Ankara eingereicht worden. Auch deutsche Politiker begrüßten die Straßburger Entscheidung, kurz vor der Reise einer EU-Delegation nach Ankara kommt.

Die Türkei muss sich als Mitglied des Europarats grundsätzlich an das Urteil halten. Es ist aber noch nicht rechtskräftig. Beide Seiten können innerhalb von drei Monaten die Verweisung an die Große Kammer des EGMR beantragen.

Der charismatische Demirtas ist ein scharfer Kritiker von Erdogan und hat immer wieder vor einer Ein-Mann-Herrschaft in der Türkei gewarnt. Er war im November 2016 unter Terrorvorwürfen verhaftet worden und ist im westtürkischen Edirne inhaftiert. Bis Februar war er HDP-Vorsitzender. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni trat er aus dem Gefängnis heraus als Präsidentschaftskandidat gegen Erdogan an. Trotz des erschwerten Wahlkampfs erreichte er mit 8,4 Prozent der Stimmen den dritten Platz.

Demirtas fühlt sich politisch verfolgt. In seiner Reaktion auf das Urteil aus dem Gefängnis schrieb er weiter, es sei bedauerlich, dass Erdogan die Entscheidung des EGMR nicht anerkennen wolle. Es zeige, dass Erdogan Justiz, Gesetz und die Verfassung nicht anerkenne. Das sei eine «sehr ernste Situation» für das ganze Land.

Erdogan bezeichnet Demirtas als «Terroristen». Er sieht die HDP - die eine legale Partei ist - als verlängerten Arm der als terroristisch eingestuften Organisation PKK.

Die Richter in Straßburg sahen die Arbeit von Demirtas als Abgeordneter behindert. Sie urteilten, die Tatsache, dass der Politiker seiner Arbeit im Parlament nicht nachkommen konnte, sei ein unrechtmäßiger Eingriff in die Meinungsfreiheit und in das Recht, als gewählter Abgeordneter im Parlament zu sitzen.

Seine Inhaftierung habe das Ziel gehabt, Pluralismus zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte einzugrenzen, befanden die Richter. Das habe insbesondere während der Präsidentenwahlen im Juni und für das umstrittene Verfassungsreferendum im April 2017 gegolten.

Die Richter urteilten zudem, die Regierung in Ankara müsse eine Entschädigung von 10 000 Euro an Demirtas zahlen und ihm Kosten in Höhe von 15 000 Euro erstatten.

Der europapolitische Sprecher der Linksfraktion Andrej Hunko forderte «die Freilassung von Selahattin Demirtas in den nächsten Tagen». Die frühere Parteichefin der Grünen, Claudia Roth, sagte der Deutschen Presse-Agentur, das Urteil zeige, dass die türkische Justiz ihre Unabhängigkeit an die AKP-Regierung abgegeben habe. «Das ist ein weiterer Grund, eben nicht auf eine Normalisierung mit der Türkei zu setzen, sondern auch das deutsche Verhältnis zu Ankara grundlegend zu überdenken», forderte sie.

Auch der Türkei-Experte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International Andrew Gardner wies darauf hin, dass die Türkei als Mitglied des Europarats an das EGMR-Urteil gebunden sei und forderte: «Die Behörden müssen die Gerichtsentscheidung umsetzen und Selahattin Demirtas sofort aus seiner langwierigen und rechtswidrigen Untersuchungshaft entlassen».

Auch der Türkei-Experte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, Andrew Gardner, wies darauf hin, dass die Türkei als Mitglied des Europarats an das EGMR-Urteil gebunden sei und forderte: «Die Behörden müssen die Gerichtsentscheidung umsetzen und Selahattin Demirtas sofort aus seiner langwierigen und rechtswidrigen Untersuchungshaft entlassen».

Demirtas und seine Partei haben immer wieder kritisiert, dass Erdogan ihn in Wahrheit habe wegsperren lassen, um einen Kritiker loszuwerden. Denn Demirtas hatte es geschafft, auch Wähler außerhalb der kurdischen Stammklientel für die HDP zu begeistern. Im Jahr 2015 schaffte die HDP erstmals den Einzug ins Parlament - Erdogans AKP kostete das damals die absolute Mehrheit.