Ein Jahr „Wir schaffen das“: Im ZDF stritten Experten über Merkels berühmten Satz

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Politologe Münkler (links) und “Cicero”-Chefredakteur Schwennicke

Vor einem Jahr sagte Angela Merkel ihren Satz „Wir schaffen das“. Gemeint war die Integration von hunderttausenden Flüchtlingen in Deutschland. Merkels berühmte drei Worte wurden seitdem in dutzenden Talkshows diskutiert, analysiert und interpretiert. Im ZDF glaubt man jedoch, dass zu diesem Thema noch nicht alles gesagt wurde. Deshalb stritten sich am Donnerstagabend diverse Experten in gleich zwei Gesprächsrunden darüber, wie diese Aussage das Land verändert hat und ob es Alternativen gegeben hätte zur Öffnung der deutschen Grenze am 4. September 2015.

Bei Maybrit Illner debattierten Politiker und Publizisten mit Migrationshintergrund über die Frage: „Fremd in der Heimat – Wer gehört zu Deutschland?“. Der aus Polen stammende CDU-Politiker Paul Ziemiak forderte erwartungsgemäß ein Burka-Verbot, die Autorin Khola Maryam Hübsch beklagte mangelnden Respekt gegenüber Muslimen hierzulande, die Filmemacherin Güner Yasemin Balci kritisierte die Forderung muslimischer Eltern nach getrennten Toiletten in Kitas und Aydan Özoğuz, SPD-Staatsministerin für Integration, warb für Integration. Höhepunkt der Sendung: CDU-Mann Ziemiak enthüllte, dass ihm Muslima Hübsch hinter der Bühne aus religiösen Gründen den Handschlag verweigert hatte. Ein Skandal, glaubt Ziemiak, ihr „gutes Recht“, glaubt Hübsch.

Merkel als “großes Unglück für Deutschland”

Deutlich spannender verlief die Diskussion danach bei Markus Lanz. Das lag vor allem am Schlagabtausch zwischen dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler und dem Chefredakteur des Magazins „Cicero“, Christoph Schwennicke. Gleich zu Beginn sorgte Schwennicke Satz, Merkel sei „ein großes Unglück für die CDU, für Deutschland und Europa“ für frenetischen Applaus im Publikum. Merkels Aussage sei ein „monströser Fehler“ gewesen, eine Einladung für die Flüchtling nach Deutschland zu kommen und habe der AfD den Boden bereitet, sagte Schwennicke und er – Christoph Schwennicke – habe das als nahezu einziger schon damals prophezeit.

Nun ist das Leben meist komplexer, als die Welt von Christoph Schwennicke und deshalb muss die Frage erlaubt sein, ob Menschen wirklich wegen eines Satzes und ein paar Selfis Haus und Heimat verlassen, um sich auf eine lebensgefährliche Odyssee in ein völlig fremdes Land zu begeben. Eventuell fliehen Syrier ja auch, weil sie durch Assads Fassbomben und mordende Islamisten in ihrem Land auf Jahre keine Perspektive für sich und ihre Familien erkennen können.

Für einen erfreulich unaufgeregten Herfried Münkler war Schwennickes Suada offensichtlich eine Zumutung. Es gebe Leute, die sich Problemen stellen, sagte der Politologe, und Leute, die mit „eitlem Gestus erklären: Ich hab es schon immer gewusst.“ Zur Grenzöffnung habe es nur eine Alternative gegeben: Man hätte die Flüchtlinge weiter auf dem Budapester Bahnhof sitzen lassen können. Stattdessen habe Merkel ihre Verantwortung wahrgenommen und den Menschen geholfen. Zudem habe die Kanzlerin in sehr kurzer Zeit entscheiden müssen. Ein Horst Seehofer, der „jetzt immer irgendwelches Zeug redet“, so Münkler, „hatte das Handy abgeschaltet, war nicht erreichbar und das ist ein Skandal.“

Willkommenskultur als Reaktion auf Brandanschläge

Journalist Schwennicke wollte den Angriff nicht auf sich sitzen lassen. Wenn Münkler ihm „eitlen Gestus“ unterstelle, dann sei das „polemisch“, kritisierte er. „Mit Dixi-Klos und Zelten hätte man einige Tage überbrücken können und in der Zeit einen Akut-Gipfel einberufen können, bei dem alle europäischen Länder einbezogen worden wären. Im Nachhinein sei man immer schlauer, konterte Münkler den „Cicero“-Chef.

Der Politologe wies auch auf ein weiteres Detail hin: Die heute viel geschmähte Willkommenskultur sei eine Reaktion auf die vorherigen Brandanschläge auf Asylbewerberheime gewesen, erklärte Münkler. „Diese Anschläge folgten einer Strategie des systematischen Terrors – mit Feuer zu zeigen: Ihr seid nicht willkommen, es wird euch hier so ähnlich gehen, wie in den Bürgerkriegsgebieten, aus denen ihr kommt.“ Erst danach folgten die Demonstrationen mit den „Welcome Refugees“-Schildern.

Es war letztlich die WDR-Journalistin Bettina Böttinger, die das Problem auf den Punkt brachte: „Wenn weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind, können wir nicht sagen: Damit haben wir nichts zu tun.“ Klar ist auch: Umfragen zufolge hat Merkel nach ihrem Satz massiv an Zustimmung in der Bevölkerung verloren und die AfD davon profitiert. Wie sehr, das wird sich bei der Landtagswahl am Sonntag in Mecklenburg-Vorpommern zeigen. (Autor: Frank Brunner)

Foto: Screenshot ZDF