Einfallstor für Russland? Warum die NATO die Suwalki-Lücke weniger fürchtet
Nach Russlands erstem illegalen Einmarsch in die Ukraine 2014 haben - insbesondere östliche - NATO-Mitglieder angefangen, ihre eigene Sicherheit zu überprüfen. Die Ergebnisse sorgten in den westlichen Hauptstädten für schlaflose Nächte.
2016 wurde dann in einem Übungsmanöver festgestellt, dass russische Truppen im Falle einer Invasion innerhalb von 36 bis 60 Stunden in die estnische Hauptstadt Tallinn und die lettische Hauptstadt Riga eindringen würden - eine unglaubliche Geschwindigkeit, die die Möglichkeiten der westlichen Verbündeten, wirksam zu reagieren, einschränken würde.
Es gibt jedoch einen Ort, der NATO-Planern und Militärstrategen mehr Sorgen bereitet als die meisten anderen - die Suwałki-Lücke.
Dabei handelt es sich um einen schmalen, 60 Kilometer langen Landstrich an der polnisch-litauischen Grenze, der auf der einen Seite von Belarus und auf der anderen von der russischen Enklave Kaliningrad begrenzt wird.
Was macht die Suwalki-Lücke so gefährlich?
Die Suwałki-Lücke ist der einzige Landkorridor, der die baltischen Staaten mit anderen NATO-Mitgliedern verbindet. Es ist ein schmaler Landstreifen, der im Falle eines Konflikts mit Russland von beiden Seiten mit Artillerie beschossen werden könnte.
Kurz gesagt, für den Westen ist er ein gefährlicher Engpass. Wenn russische oder belarussische Streitkräfte die Lücke schließen könnten, wäre die NATO nicht in der Lage, Verstärkung auf dem Landweg zu schicken, sondern wäre gezwungen, auf den Luft- und Seeweg zurückzugreifen. Die Gefahr besteht darin, dass die NATO-Mitglieder nicht in der Lage wären, auf dem See- und Luftweg schnell genug und in ausreichender Zahl Verstärkung in die baltischen Staaten zu schicken, um die russischen Streitkräfte zurückzuschlagen.
Eine Mischung aus NATO-Maßnahmen und russischen Fehlern hat diese Gefahr jedoch drastisch verringert.
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Russische Aggression führt zu einer erweiterten NATO
Als Russland im Februar 2022 seine groß angelegte Invasion in der Ukraine startete, erschütterte das die Nachbarländer. Der größte Krieg auf dem europäischen Kontinent seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte zu einer vollständigen Neubewertung der bisherigen Annahmen und Strategien.
Nachdem Finnland und Schweden jahrzehntelang eine Politik der militärischen Neutralität verfolgt hatten, beantragten beide Länder den Beitritt zur NATO. Während der Beitritt Schwedens aufgrund türkischer Einwände noch aussteht, ist Finnland jetzt Teil des Bündnisses, was die Gefahr, die von der Suwałki-Lücke ausgeht, erheblich verringert.
"Der Beitritt Schwedens und Finnlands schafft de facto ein 'NATO Mare Nostrum' (übersetzt: Unser NATO-Meer), wobei Russland wahrscheinlich nicht in der Lage ist, eine echte 'Anti-Access'- oder 'Area-Denial'-Strategie auszuüben", so Guillaume Lasconjarias, Professor an der Universität Paris-Sorbonne und ehemaliger Forscher am NATO Defence College in Rom, gegenüber Euronews.
Einfacher ausgedrückt: Da die NATO-Mitglieder an den größten Teil der Ostsee grenzen, wäre Russland nicht in der Lage, die Ankunft westlicher Verstärkungen auf dem Seeweg zu verhindern.
Mit dem Beitritt Finnlands zur NATO verdoppelte sich auch die Länge der Grenze der Allianz zu Russland. Das hat Russland laut Kreml gezwungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um seine eigene Sicherheit taktisch und strategisch zu gewährleisten. Diese erhöhte Gefährdung eines NATO-Mitglieds verringert die Chancen eines russischen Angriffs auf andere NATO-Mitglieder, die an die Suwałki-Lücke grenzen.
Militärisches Scheitern in der Ukraine verringert russische Militärkapazitäten
Als Putin 2022 den illegalen Einmarsch in die Ukraine befahl, schien er davon überzeugt, dass es sich um einen kurzen, schnellen und erfolgreichen Feldzug handeln würde. Der in London ansässige Think-Tank RUSI (The Royal United Services Institute) sagt, dass erbeutete russische Dokumente zeigen, dass Moskau einen 10-Tage-Plan hatte, um das Land zu übernehmen und seine Anführer zu töten.
In den fast 600 Tagen seit Beginn des Krieges ist es den russischen Streitkräften nicht gelungen, wichtige Ziele wie Kiew einzunehmen, sie wurden durch die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive in Charkiw gedemütigt und haben laut der ersten unabhängigen statistischen Analyse fast 50.000 Soldaten verloren.
Da Russland immer noch in der Ukraine feststeckt, hat es keine militärischen Kapazitäten, um einen Vorstoß in die Suwałki-Lücke zu unternehmen. Ohne einen erfolgreichen militärischen Ausgang in der Ukraine ist es unwahrscheinlich, dass Putin in der Lage wäre, eine andere größere Militäraktion anzuordnen. Noch unwahrscheinlicher ist es, wenn man bedenkt, dass die betroffenen Länder NATO-Mitglieder sind.
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Strategische Neuausrichtung im Baltikum, in der EU und in der NATO verringern das russische Risiko
Putins Einmarsch in der Ukraine veranlasste die NATO zu einer umfassenden strategischen Neuausrichtung. Früher stützte sich das Bündnis auf kleine NATO-Streitkräfte, die eine russische Aggression aus Angst vor der Auslösung des NATO-Artikels 5 und einer kollektiven Reaktion auf einen Angriff verhindern sollten.
Jetzt spricht die NATO stattdessen davon, jeden Zentimeter ihres Territoriums zu verteidigen.
Das Bündnis hat vier neue Gefechtsverbände in vier neuen Ländern (Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei) aufgestellt, die Zahl der auf acht Gefechtsverbände verteilten Truppen verdoppelt und Dutzende weiterer Schiffe und Hunderte weiterer Flugzeuge in den östlichen Teil des Bündnisses entsandt.
Sie hat neue Pläne ausgearbeitet, wie sie das Baltikum im Falle einer Invasion erreichen und verstärken kann, und plant, ihre Präsenz in der Region weiter zu verstärken.
Lasconjarias hebt auch hervor, dass die baltischen Staaten "größere Anstrengungen bei der Mobilisierung ihrer Streitkräfte und ihrer Bevölkerung unternommen haben, indem sie in ihrer Bevölkerung eine 'totale Verteidigung' propagiert haben (wie die estnische Verteidigungsliga)."
Neue Initiativen der EU, der baltischen Staaten und der NATO zur Förderung der militärischen Mobilität, wie zum Beispiel der Bau einer neuen transbaltischen Eisenbahnlinie, werden es der NATO ebenfalls ermöglichen, ihre Streitkräfte schneller zu verlegen. Infolgedessen sinken die Chancen, die baltischen Staaten durch die Schließung der Suwałki-Lücke erfolgreich abzuschneiden.
Ironischerweise sind es die russischen Invasionen in der Ukraine 2014 und 2022, die das Risiko eines Angriffs auf die Suwałki-Lücke so unwahrscheinlich gemacht haben.