Eliteforscher Michael Hartmann - Ungleichheit steigt: Warum sich reiche Deutsche lieber zur Mittelschicht zählen
Viele wohlhabende Deutsche betrachten sich selbst als Teil der Mittelschicht – doch die Wirklichkeit ist eine andere. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Eliteforscher Michael Hartmann erläutert, warum Erbschaften dabei eine zentrale Rolle spielen.
Deutschland ist seinem Selbstverständnis nach eine Mittelschichtgesellschaft. Das wird vom Großteil der Bevölkerung so gesehen. Die meisten Deutschen rechnen sich selbst zur Mittelschicht, beim Einkommen ebenso wie beim Vermögen.
Als Friedrich Merz sich 2018 in einem Interview zur oberen Mittelschicht zählte, wirkte das zwar nicht besonders glaubwürdig. Mit seinem Millioneneinkommen gehörte er zu den gerade einmal gut 26.000 Deutschen, die in diesem Jahr so viel verdienten, also zu den obersten 0,5 Promille der Einkommensbezieher. Dennoch war es wohl nicht allein politisches Kalkül, das ihn zu dieser Aussage bewegte. Das habe ich im persönlichen Umfeld immer wieder erlebt.
Menschen mit Jahreseinkommen von über 200.000 Euro und/oder Vermögen im zweistelligen Millionenbereich rechneten sich im Privatgespräch ganz selbstverständlich zur Mittelschicht. Ihre Orientierung war eben ihr eigenes Umfeld, das überwiegend aus Personen mit ähnlichem Einkommen und Vermögen bestand.
Die allermeisten Deutschen sehen sich als Angehörige der Mittelschicht
Dieser persönliche Eindruck wird aber auch von wissenschaftlichen Studien bestätigt. So ordnen sich in einer repräsentativen Befragung der Universität Konstanz fast alle Befragten den mittleren vier Zehnteln der Einkommensskala zu. Vor allem die reichsten 10 Prozent schätzen ihre eigene Position dabei vollkommen falsch ein. Sie verorten sich am oberen Ende des sechsten Zehntels statt im obersten Zehntel, wo sie sich tatsächlich befinden.
Beim Vermögen zeigt sich dasselbe Bild. Die Befragten halten die Vermögensungleichheit sogar für etwas weniger ausgeprägt als die Einkommensungleichheit, während in der Realität die Unterschiede bei den Vermögen weit größer sind als bei den Einkommen.
Ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen wird deutlich kritisiert
Trotz der überwiegenden Zuordnung zur Mittelschicht ist das Gefühl einer ungerechten Verteilung bei denselben Personen aber ebenfalls weit verbreitet. Sowohl hinsichtlich der Einkommen als auch bezüglich der Vermögen stimmt eine Mehrheit der Aussage, dass die Unterschiede zu groß seien, voll und ganz zu. Nimmt man jene hinzu, die die Aussage eher für zutreffend halten, kommt man auf einen Anteil von deutlich über 80 Prozent. Außerdem wird die Entwicklung seit der Jahrtausendwende sehr kritisch gesehen.
Fast jeder zweite ist der Ansicht, dass die Ungleichheit stark gestiegen ist und ein weiteres Viertel, dass sie etwas gestiegen ist. Nur jeder sechste glaubt an eine Verringerung. Die eigene Verortung in der Mittelschicht ist nicht gleichbedeutend mit der Leugnung der großen Unterschiede bei Einkommen und Vermögen. Die Wirklichkeit bricht sich hier dann doch Bahn. Auch wenn sich die allermeisten in der Mitte verorten, fühlen sie doch die große und ständig zunehmende Ungleichheit.
Kluft bei den Einkommen und Vermögen wird größer
Dieses Gefühl trügt sie nicht, wie die regelmäßigen Erhebungen des DIW zeigen. Das oberste Zehntel der Einkommensbezieher hat seit 1999 mit einem realen Plus von 45 Prozent mehr als doppelt so stark zugelegt wie die mittleren Einkommensgruppen und am unteren Ende war sogar ein Minus von acht Prozent angesagt. Bei den Vermögen bietet sich ein noch deutlicheres Bild als bei den Einkommen.
Die seit 2001 jedes Jahr vom Manager Magazin veröffentlichte Reichenliste zeigt regelmäßig dasselbe Bild. Die reichsten Deutschen werden immer reicher, in absoluten Zahlen wie auch bezogen auf ihren Anteil am Gesamtvermögen. Im letzten Jahr hat sich nicht nur die Zahl der Milliardäre von 226 auf 249 erhöht, also um fast zehn Prozent.
Auch das Gesamtvermögen der 500 reichsten Deutschen ist gleichzeitig um 53 Mrd. Euro auf gut 1,1 Bio. Euro angewachsen. Das ist schon eine enorm große Summe, mehr als doppelt so groß wie der gesamte Bundeshaushalt. Der reale Reichtum dürfte allerdings noch größer sein; denn die Liste führt nach Recherchen eines ZDF-Teams allein elf Milliardäre nicht auf, weil diese juristisch gegen ihre Nennung vorgegangen sind.
Darunter befindet sich mit den Familien Boehringer und von Baumbach, denen Boehringer Ingelheim gehört, die mit über 50 Mrd. Euro reichste Familie Deutschlands. Insgesamt, so schätzt das ZDF-Team, dürfte das Vermögen der 500 Reichsten ungefähr 50 Prozent höher liegen als vom Manager Magazin angegeben. Das wären dann über 1,6 Bio. Euro, mehr als das Dreifache des Bundeshaushalts. Sollte diese Schätzung stimmen, dürften die 500 Reichsten vom gesamten Finanzvermögen der Deutschen ungefähr ein Fünftel besitzen.
Den reichsten 3300 Deutschen gehört fast ein Viertel des Vermögens
Der seit 2013 jährlich erscheinende World Wealth Report der Boston Consulting Group ergänzt das Bild durch einen Blick auf alle Millionäre und den Zuwachs je nach Vermögensklasse. Dem Report zufolge entfällt auf die 3300 Deutschen mit einem Vermögen von mindestens 100 Mio. US-Dollar, die sogenannten Superreichen, mit 23 Prozent fast ein Viertel des Gesamtvermögens. Bis 2029 soll ihr Anteil sogar auf 26 Prozent steigen. Sie haben ihr Vermögen im letzten Jahr deutlich überproportional um zehn Prozent steigern können, doppelt so stark wie die Personen mit „nur“ ein bis fünf Mio. US-Dollar Vermögen.
Der Grund dafür liegt vor allem in einem anderen Anlageverhalten. Sehr wohlhabende Anleger, so die Begründung von BCG, hätten „einen höheren Anteil ihres Vermögens am Kapitalmarkt und in renditestarken Anlageklassen wie Private Equity investiert.“ Ein solches Anlageverhalten hat allerdings eine wichtige Voraussetzung. Je mehr Geld man zur Verfügung hat, umso mehr Risiken kann man bei der Anlage eingehen und umso eher kann man auch auf die Unterstützung professioneller, hoch bezahlter Berater zurückgreifen.
Firmenvermögen spielt in Deutschland eine große Rolle
Die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen ist nun nichts spezifisch Deutsches. Diese Entwicklung findet man in den letzten Jahrzehnten in so gut wie allen Industriestaaten, mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Fast überall sind die Steuern für die Reichen deutlich gesenkt worden, während gleichzeitig die Sozialleistungen zusammengestrichen wurden.
Es gibt aber eine Besonderheit, die Deutschland gegenüber den meisten anderen Ländern auszeichnet und die dafür sorgt, dass die Zahl der Superreichen hierzulande so hoch ist wie außer in den USA und China sonst nirgends. Das ist die enorm hohe Anzahl an großen Unternehmen, die sich (ganz oder teilweise) in Familienbesitz befinden. Das trifft immerhin auf jedes zweite der 100 größten Unternehmen zu. Sie werden oft schon seit langen Jahrzehnten von Generation zu Generation weitergegeben, bei Merck und Haniel als den ältesten unter ihnen schon seit dem 17. bzw. 18. Jahrhundert.
Erben dominieren und gesetzliche Regelungen begünstigen sie enorm
Entsprechend dominieren die Erben unter den reichsten Deutschen ganz eindeutig. Sie stellen über vier Fünftel von ihnen, egal ob man nur Einzelpersonen oder ganze Familien betrachtet. Die steuerlichen Regelungen bei Erbschaften oder Schenkungen spielen deshalb eine entscheidende Rolle für die Vermögensverteilung und letztlich auch für die Einkommensverteilung, da die höchsten Einkommen stets aus den größten Vermögen resultieren.
Typisch ist in dieser Hinsicht BMW. Das auch für Topmanager sehr hohe Gehalt von 8,2 Mio. Euro für Vorstandschef Oliver Zipse verblasst, wenn man es mit den jeweils über 800 Mio. Euro Dividende für die beiden Quandt Erben Susanne Klatten und Stefan Quandt vergleicht.
Dieser Vergleich zeigt, wie entscheidend Erben ist. Seit einer gesetzlichen Änderung 2009 unter Finanzminister Steinbrück können Familienunternehmen nun fast steuerfrei an die nächste Generation übergeben werden. Zwar gab es auf Anforderung des Bundesverfassungsgerichts 2016 eine gesetzliche Änderung. Sie hat am Tatbestand aber kaum etwas geändert, nur am konkreten Vorgehen. Seither gibt es die sogenannte Verschonungsbedarfsprüfung, die mittlerweile die meisten Superreichen nutzen, zuletzt Medienberichten zufolge wohl auch Susanne Klatten, als sie Unternehmensanteile von jeweils 1,5 Mrd. Euro an ihre drei Kinder verschenkte.
Diese Regelung erlaubt das weitgehend steuerfreie Verschenken oder Vererben großer Vermögen. Der Beschenkte oder Erbe muss nur bereit sein, die Hälfte seines Privatvermögens dem Finanzamt zu überlassen, um die Schenkung oder das Erbe selbst dann steuerfrei zu erhalten. Bei Kindern oder Jugendlichen ohne nennenswertes Privatvermögen lohnt sich das ganz besonders.
Es geht prinzipiell aber auch in anders gelagerten Fällen. Das hat der Fall Mathias Döpfner vor vier Jahren gezeigt. Er war kein Familienmitglied und hat trotzdem von der Regelung profitiert. Friede Springer schenkte ihm damals Springer-Aktien im Wert von über einer Milliarde Euro. Da Döpfner kurz zuvor sein Privatvermögen von 276 Mio. Euro zum Erwerb von Springer-Aktien verwendet hatte, kam auch er zahlreichen Medienberichten zufolge in den Genuss der Regelung und musste die normalerweise anfallende Schenkungssteuer von ca. 500 Mio. Euro nicht zahlen.
Die gesetzliche Begünstigung von Erben großer Unternehmen wird ganz entscheidend dazu beitragen, dass die Ungleichheit in der Vermögens- und der Einkommensverteilung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter steigen wird.