Emotionen, Dankbarkeit, Stolz - Wie ich meine erste „richtige“ EM erlebte: Ein 16-Jähriger berichtet
Für Spanien hat es am Ende nicht gereicht. Trotzdem zeigte sich die Nationalelf bei der Europameisterschaft im eigenen Land in guter Form - und begeisterte Millionen von Fußballfans. Für viele jüngere Fußballbegeisterte war die EM zudem das erste große Turnier, welches sie zudem hautnah miterlebten. Wie sich diese emotionale Reise anfühlt, berichtet Frederic von Seyfried für FOCUS online.
Schluss. Aus. Vorbei! Enttäuschung und Wut machen sich breit, als Anthony Taylor das Spiel gegen die Spanier nach mehr als 120 Minuten abpfeift. Enttäuschung über das tragische und viel zu früh gekommene Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft im Viertelfinale der Fußball-EM, gepaart mit der Wut auf den Schiedsrichter, die strittige Handspielszene mithilfe des VARs hätte überprüfen müssen. Dann wäre er zu keinem anderen Schluss gekommen, als auf den Elfmeterpunkt zu zeigen.
Wir schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und erkennen langsam, dass unser Traum, im eigenen Land Europameister zu werden, geplatzt ist. Wir, das sind meine Freunde und ich, alle Schüler, zwischen 16 und 17 Jahren alt.
Schnell mischt sich auch ein Gefühl von Dankbarkeit und Stolz auf diese deutsche Mannschaft zur Enttäuschung, noch bevor Spieler und Trainer Interviews geben. Denn für uns war das erste große Turnier (und dazu noch im eigenen Land!), das wir hautnah miterlebten und das nicht durch ein Vorrunden-Aus endet. Was bleibt dabei an mir hängen?
So beginnt unsere Reise durchs Turnier
Diese wunderbare Reise der Emotionen beginnt mit dem Auftaktspiel in meiner Heimatstadt München gegen Schottland. Im Nachhinein das Highlight des Turniers - für mich jedenfalls. Meine Freunde und ich können sich von Anfang an mit dieser deutschen Mannschaft identifizieren.
Da ist der Comeback-Kroos, der Mittelfeld-Dirigent. Da sind sein Klubkamerad Rüdiger und dessen Innenverteidiger-Partner Tah, die sich in jeden Zweikampf werfen. Da sind unsere jungen Zauberer Musiala und Wirtz, denen wir uns aufgrund ihres noch so jungen Alters besonders verbunden fühlen. Und dann wäre da natürlich noch Deniz Undav, dessen lockere Art uns mehr als einmal zum Lachen bringt, beispielsweise als er verkündet, dass er Stürmerstar Thomas Müller eine Glatze schneidet, wenn sie Europameister werden.
Wochenlang war diese Heim-EM das bestimmende Gesprächsthema: Wir diskutierten über die Aufstellung, den Trainer, vor allem aber die Trikots. Das große Thema war aber, mit welchem Spieler man sich sein Trikot beflocken lässt. Als ich mit meinem neuen weißen Trikot mit Musiala und meine Freunde mit ihren Trikots im Klassenzimmer sitzen, steigt die Vorfreude auf das erste Spiel mit jeder weiteren Sekunde rasant an. Direkt nach der Schule machen wir uns bei bestem Wetter auf den Weg zum Marienplatz, um die vielen schottischen Fans nicht nur über unsere Handybildschirme, sondern nun auch live zu erleben.
Das Schottland-Spiel: Ein fulminanter Auftakt
Schon Tage vor dem Match gehen unzählige Videos mit den Schotten in ihren Kilts und Dudelsäcken viral, die für ausgelassene Stimmung in der Münchner Innenstadt sorgen. Als ich schließlich auf die Schotten treffe, bin ich völlig überwältigt. Ein Meer von Fans in dunkelblauen Röcken und Trikots, teils mit, teils ohne Dudelsäcke, sorgt für die ausgelassenste Stimmung, die ich je rund um ein Fußballspiel erlebt habe. Die Schotten feiern ihre Spieler mit verschiedensten schottischen Gesängen fröhlich und völlig friedlich - vermutlich auch dem guten Münchner Bier geschuldet.
Um 16 Uhr (fünf Stunden vor Anpfiff!) treffen meine Freunde und ich im prall gefüllten Biergarten ein, wo wir glücklicherweise noch einen Tisch nahe der großen Leinwand ergattern. Direkt am Nachbartisch jubeln schottische Fans bereits lautstark „We´ve got McGinn, hey, super John McGinn“, und selbstverständlich auch „No Scotland, no party“.
Die Gäste aus dem verregneten Norden der Britannie bleiben nicht unter sich - immer wieder reden wir, lachen gemeinsam. Nach dem Spiel machen wir ein Gruppenfoto. Da bewahrheitet sich der Satz: „Fußball verbindet Menschen, egal welcher Herkunft, welcher Religion, welchen Aussehens“. Allein schon aufgrund dieses Nachmittags bin ich ein Fan davon, jeden Sommer ein Freundschaftsspiel mit unseren schottischen Freunden auszutragen.
45 Minuten vor dem Anpfiff erschallt schließlich tosender Applaus: Unsere Jungs wärmen sich auf dem Rasen der Allianz-Arena auf! Nachdem die deutsche Mannschaft zur Pause bereits mit 3:0 führt, stellen meine Freunde und ich uns in die Schlange, um uns etwas zu trinken zu holen. Als einer „Oh wie ist das schön … so was hat man lange nicht gesehen“ anstimmt und die restliche Schlange mitsingt, habe ich ein unbeschreibliches Gemeinschaftsgefühl, das ich in den letzten Jahren unter den deutschen Fans so nicht gespürt habe.
Am besten fasst es jedoch ein junger Mann mit den Worten „Endlich, endlich spielen die mal wieder gut“, zusammen. Nach dem 5:1-Endergebnis sind wir maximal euphorisiert und für uns ist glasklar: Deutschland wird Europameister, möge kommen, wer wolle. Dabei ist es für uns völlig egal, dass die Schotten ihr so überaus freundliches Auftreten damit krönen, dass sie uns den Sieg auch mehr oder weniger schenken. Mit „Europameister, wir werden Europameister“-Gesängen endet dieser für mich so wunderbare Tag.
Das pink-lilafarbene Auswärtstrikot
Am nächsten Tag mache ich mich erneut auf den Weg in die Münchner Innenstadt, um das pink-lilafarbene Auswärtstrikot zu kaufen. Jenes Trikot, das bei seiner Vorstellung teilweise scharf kritisiert wurde, weil es nichts mit den Farben Deutschlands zu tun habe und sowohl pink als auch lila keine Farben für einen „Männersport“ wären. Wer hätte schlussendlich gedacht, dass das Trikot häufiger als das klassische Heimtrikot in preußischen Farben verkauft wird und zum absoluten Verkaufs-Hit wurde?
Ich habe die ganze Diskussion ohnehin nicht verstanden. Männer- und Frauen-Farben gibt es bei uns nicht – entweder es sieht gut aus oder nicht. Meine Freunde und ich sind der Meinung: Das ist das beste DFB-Auswärtstrikot, seitdem wir uns für den Fußball interessieren. Ich würde fast so weit gehen, dass es mein liebstes Trikot im Schrank ist. Zu kritisieren wäre allenfalls der hohe Preis. Dass sich das Trikot im Verlauf des Turniers immer größerer Beliebtheit erfreut, bestätigen die langen Schlangen vor den Münchner Sportgeschäften in Hinblick auf das Ungarn-Spiel.
Das Ungarn-Spiel: Ein „dreckiger Arbeitssieg“
Am darauffolgenden Mittwoch steht das Spiel gegen Ungarn auf dem Programm. Diesmal erscheinen wir als Freundesgruppe selbstverständlich alle im pink-lilafarbenen Trikot in der Schule - wie die deutsche Mannschaft am Abend eben auch. Auch dieses Spiel verfolgen wir in einer großen Gruppe beim Public Viewing, wo wir leider nicht die beste Sicht hatten. Doch das 2:0, was gleichzeitig das Weiterkommen der deutschen Mannschaft bedeutet, bestärkt uns in unserer Meinung, dass nur wir Europameister werden können, da wir jetzt auch wieder „dreckige Arbeitssiege“ einfahren.
Das Schweiz-Spiel: Der Ausgleich, der mehr Fluch als Segen war
Am Sonntag darauf steht das letzte Gruppenspiel an, dem ich relativ entspannt entgegensehe. Schließlich sind wir schon sicher weiter. Die eher schwache Leistung der deutschen Mannschaft betrübt uns über die 90 Minuten hinweg ein wenig, doch glaubte ich bis zum Ende an den Ausgleich und den damit verbundenen Gruppensieg, der uns, so dachten wir damals, die schwierigsten Gegner in der KO-Phase ersparen sollte.
Als in der Nachspielzeit die letzte der unzähligen Flanken in den Schweizer Strafraum segelt und Füllkrug den Ball endlich ins Netz köpft, ist unsere Erleichterung und Freude nicht zu bremsen: Wir steigen auf Tische und Bänke und brüllen uns unsere Leiber aus der Seele.
Auch nach dem Spiel dachten wir: So etwas kann der Mannschaft für den weiteren Turnierverlauf nochmal so einen Push geben, dass wir jetzt erst recht Europameister werden. Im Nachhinein werden die meisten (mich eingeschlossen) wahrscheinlich behaupten, dass dieser Ausgleich in der letzten Minute mehr Fluch als Segen war.
Das Dänemark-Spiel: In Erinnerung bleiben vor allem die Wassermassen
Das Dänemark-Spiel ist für mich persönlich das unspektakulärste Spiel der deutschen Mannschaft bei dieser EM. Wie viele andere Fans bin ich im Kopf ohnehin schon beim voraussichtlichen Spitzenkampf gegen Spanien. Zudem gibt es dieses Mal krankheitsbedingt kein Public Viewing - stattdessen verfolge ich das Spiel „nur“ mit Eltern und Großeltern zuhause auf dem Sofa.
Trotzdem: Mit den Wassermassen in Dortmund und den dänischen Fans, die unter dem „Wasserfall“ tanzen, bleiben direkt Erinnerungen an diese Begegnung. In diesem Spiel blieb das Glück auf dem Feld zudem für die Nationalelf, die Dänemark mit 2:0 besiegt.
Das Spanien-Spiel: Das Ende unseres Traums
Und dann kommt das Spanien-Spiel. Fast meine gesamte Schule kommt entweder in pink-lila oder in weiß zum Unterricht. Nahezu jeder spricht von einem vorgezogenen Finale und dass die Mannschaft, die sich heute durchsetzen würde, der absolute Top-Favorit auf den Titel sei. Wir stellen uns vor, wir stünden auch auf dem Platz, so wie Spaniens 16-Jähriger Lamine Yamal, der genau so alt ist wie wir.
Dass ausgerechnet Yamal, der am Samstag seinen 17. Geburtstag feierte, unseren Titeltraum beenden würde, wussten wir zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht. An diesem Abend kann uns nichts mehr retten. Unsere Jungs geben alles, aber es gibt keinen Elfmeter und auch die zusätzlichen Minuten, die uns Anthony Taylor am Ende schenkt, ändern nichts mehr. Spanien ist weiter, wir sind raus.
Am Ende erringt die „Furia Roja“ gegen die „Three Lions“ dann auch noch den Titel, den unsere Mannschaft auch verdient hätte. Doch gleichzeitig wird mir nach und nach auch bewusst, dass wir als Land vereint hinter unserer Mannschaft stehen.
Einen Moment lang hat uns diese Europameisterschaft von all den großen Problemen heutzutage abgelenkt. Es war ein Fest! Als Erinnerung können wir mitnehmen: Gemeinsam kann man viel erreichen, wie es uns die elf Spieler gezeigt haben. Und zum Trost: So, oder so ähnlich, hat es Bundestrainer Julian Nagelsmann gesagt: „Dann werden wir in 2 Jahren halt einfach Weltmeister.“