Endspurt im UK-Wahlkampf: Boris Johnsons Empathie-Patzer

Premierminister Boris Johnson gilt als großer Favorit vor der Wahl in Großbritannien. Doch ausgerechnet beim empfindlichen Thema Gesundheitsversorgung leistete er sich jetzt einen womöglich folgenschweren Patzer. (Bild: Daniel Leal-Olivas/Pool via Reuters)
Premierminister Boris Johnson gilt als großer Favorit vor der Wahl in Großbritannien. Doch ausgerechnet beim empfindlichen Thema Gesundheitsversorgung leistete er sich jetzt einen womöglich folgenschweren Patzer. (Bild: Daniel Leal-Olivas/Pool via Reuters)

Am 12. Dezember, wird in Großbritannien ein neues Parlament gewählt. Doch es ist vor allem eine richtungsweisende Zukunftsentscheidung, um die es an den Urnen gehen wird. Dementsprechend hart wird der Wahlkampf bis zur letzten Minute geführt. Und Premierminister Boris Johnson leistete sich auf den letzten Metern einen heftigen Ausrutscher.

Die beiden entscheidenden Anliegen für die Wähler auf der Insel sind natürlich der Brexit, den Boris Johnsons Tories weiter durchziehen wollen, und das marode Gesundheitssystem (NHS), das vor allem die Herausforderer von der Labour-Partei zum Thema machen. Aktuell sieht es trotz der wenig erfolgreichen Brexit-Verhandlungen mit der EU so aus, als würde der erratische Boris Johnson seinen Vorsprung über die Zeit ins Ziel retten können. Momentan sind seine Konservativen fast zehn Prozentpunkte vor der sozialdemokratischen Konkurrenten.

Der laute Johnson wird oft als britischer Donald Trump betrachtet, eine Fehleinschätzung. Der ehemalige Journalist setzt seine Polemik und seine Netzwerke viel zielgerichteter und kalkulierter ein, als der US-Präsident. Seine äußere Erscheinung, sein wirres Haar und der polternde Ton - all das ist Teil einer geschickten Inszenierung, mit der er clever auf der Tastatur seines Klientels zu spielen weiß. Meistens jedenfalls. Denn auch dem englischen Premier unterlaufen mitunter haarsträubende Patzer, die ihn entschieden Sympathiepunkte kosten.

Auf den letzten Metern der Kampagne wurde Johnson nun von Joe Pike, einem Reporter von “ITV Calendar”, gebeten, sich ein Bild des vierjährigen Jack anzuschauen. Der kranke Junge war von dem Boulevardblatt “Mirror” auf der Titelseite abgebildet worden. Auf dem Foto ist zu sehen, wie der Vierjährige, bei dem der Verdacht auf eine Lungenentzündung bestand, auf dem Boden eines Krankenhauses in Leeds schläft. Er liegt auf einem Haufen Jacken, weil es in der öffentlichen Klinik offensichtlich kein freies Bett für ihn gibt. Es ist ein symbolisches Bild für den Zustand des Gesundheitssystems, zentrales Wahlkampfthema und Fokus der Opposition.

Boris Johnson hatte aber entweder keine Lust, sich mit dem Schicksal des kranken Kindes zu beschäftigen, oder war von Pikes Frage genervt, die auf seinen Umgang mit dem öffentlichen Gesundheitssystem abgezielt hätte. Jedenfalls weigerte er sich zunächst, zu antworten, dann griff er nach dem Smartphone des Journalisten und steckte es in seine Jacketttasche. Als Pike sein Telefon zurückforderte, holte Johnson es schließlich wieder hervor und sagte: „Es ist ein furchtbares, furchtbares Foto und ich entschuldige mich natürlich bei der Familie und allen, die schreckliche Erfahrungen mit dem NHS machen.“

Da war der Schaden aber schon geschehen, denn weil die ganze Interaktion gefilmt wurde, gelangten die Bilder an die Öffentlichkeit. Es wirkt so, als sei dem Politiker das Schicksal von kranken Kindern und deren Familien schlichtweg lästig und egal. Später wurde Johnson noch einmal in Sunderland von Journalisten der BBC zu dem Thema befragt, auch hier antwortete der Premier ausweichend und verwies lediglich auf die Strategie seiner geschassten Vorgängerin Theresa May und flüchtete sich in Allgemeinplätze. Er sei „sehr stolz“ darauf, was mit dem Krankenhaus in Leeds passiere. „Es ist eine der Kliniken, die wir von Grund auf neubauen. Es wird ein fantastisches Projekt.“ Da klang der Premierminister dann doch wieder, wie der englische Donald Trump. Doch er hatte offensichtlich die Symbolwirkung seiner Reaktion zunächst deutlich unterschätzt.

“Der Moment, in dem die Maske gefallen ist”

Zur Schadensbegrenzung schickte er immerhin seinen Gesundheitsminister, Matt Hancock, in das Krankenhaus, in dem der Junge behandelt wird. Dort warteten aber bereits Demonstranten auf Hancock, um den Besuch als PR-Coup zu entlarven und lautstark für eine bessere Gesundheitsversorgung zu protestieren. Natürlich ließ sich die Opposition um seinen linken Herausforderer Jeremy Corbyn so kurz vor dem Wahltag die Gelegenheit nicht nehmen, Johnson und seine Politik für die mangelnde Empathie zu attackieren. „Dem Premierminister ist es einfach egal,“ sagte Corbyn zu dessen Reaktion auf das Schicksal des Jungen.

Jon Ashworth, designierter Gesundheitsminister der Labour-Partei, fand noch deutlichere Worte: „Sich zu weigern, sich das Foto eines Jungen, der unter den NHS-Kürzungen der konservativen Partei leidet, auch nur anzuschauen, ist ein neuer Tiefpunkt für Boris Johnson.“ Auch von den Liberalen Demokraten gab es harsche Kritik: „Dies ist der Moment, in dem die Maske gefallen ist,“ sagte der Sprecher der Liberalen, Tim Farron. „Dieser schockierende Mangel an Empathie zeigt, warum Johnson nicht geeignet ist, Premierminister zu sein.“

Die heftigen Reaktionen auf das Fehlverhalten des amtierenden Premierministers bei solch einem sensiblen Thema lassen viele Wahlbeobachter vermuten, dass das Rennen in einem ohnehin hochemotionalisierten Wahlkampf längst noch nicht gelaufen ist.