Erkenntnisse des Turniers - Drei Tendenzen haben unseren Taktik-Experten bei der EM so richtig genervt
Die EM 2024 befindet sich auf der Zielgeraden. Wenngleich das Turnier in Deutschland in den vergangenen Wochen viel Euphorie auf den Straßen entfachte, ließen einige Partien - vor allem in der K.o.-Runde - sehr zu wünschen übrig.
Schon zum Abschluss der EM-Gruppenphase fiel auf, wie einige Mannschaften vorrangig auf Fehlervermeidung ausgerichtet waren. Statt nach vorn zu spielen, wurde das Augenmerk auf defensive Absicherung gelegt. Dieser Trend setzt sich nun in der K.o.-Phase fort.
Die EM-K.o.-Runde: Geprägt von der Angst vor Risiko
Erschreckend ist das Beispiel der englischen Nationalmannschaft, die bei allem Talent in der Offensive lieber den Ball ständig um den gegnerischen Defensivblock herumspielt und nur selten in die gefährlichen Zonen eindringt. Nationaltrainer Gareth Southgate steht für Risikovermeidung und konservativen Fußball.
Manche seiner Trainerkollegen agierten unterdessen zu vorsichtig bei der Auswahl des Personals. Kroatiens Cheftrainer Zlatko Dalić etwa hielt zu lange an alternden Spielern fest, auch als sein Team ins Hintertreffen geriet. In einer ungleich schwierigeren Lage bei dieser EM befand sich Roberto Martínez.
Der Trainer der portugiesischen Mannschaft war wohl gezwungen, auf Cristiano Ronaldo zu setzen, obwohl der 39-Jährige nicht mehr die Beine für 90 oder 120 Minuten besaß.
Generell nahm der Unterhaltungsfaktor der EM mit zunehmender Zeit ab. Am letzten Gruppenspieltag wurde viel taktiert, weil auch vier der sechs Gruppendritten weiterkamen und entsprechend nur wenigen Mannschaften das Aus drohte.
In der darauffolgenden K.o.-Phase wirkte es so, als würden die kleinen Nationen lange auf 0:0 spielen und sich selbst manche großen Teams auch mit einem Elfmeterschießen zufriedengeben.
Niemand hat einen überragenden Mittelstürmer
Eine weitere enttäuschende Erkenntnis des Turniers betrifft die Mittelstürmer. Aktuell gibt es im europäischen Fußball nur sehr wenige erstklassige Torjäger, die auch auf diesem Level ihre Treffer erzielen können. Die Generation rund um Karim Benzema und Robert Lewandowski steht kurz vorm fußballerischen Ruhestand, während beispielsweise Norwegens Erling Haaland bei der EM nicht dabei sein konnte.
Zugleich sind Stammstürmer bei dieser EM wie Álvaro Morata, Gianluca Scamacca oder Marko Arnautović vor allem als Zielspieler aufgefallen, die den Ball gut halten können, aber selten Torjägerqualitäten aufweisen. Auch Deutschland ist auf der Mittelstürmerposition nicht optimal besetzt, weil Kai Havertz zwar ein starker Techniker ist, aber nicht immer die gedankliche Wahrnehmung eines Torjägers mitbringt.
Bundestrainer Julian Nagelsmann entschied sich regelmäßig dafür, Niclas Füllkrug als Edeljoker zu bringen – ähnlich wie es auch Bondscoach Ronald Koeman mit Wout Weghorst tut. Die vollen 90 Minuten und eine passende Integration ins Ballbesitzspiel trauten beziehungsweise trauen wohl beide ihren traditionellen Mittelstürmern nicht zu.
Eigentliche Weltklasse verspricht jedoch Harry Kane. Der Angreifer des FC Bayern, der in der abgelaufenen Saison 44 Tore in 45 Spielen für die Münchener erzielte, kommt aber bei der laufenden EM gar nicht zur Geltung. Selten erreicht eine Flanke den 30-Jährigen, noch seltener wird er mal effektiv hinter die Abwehrlinie geschickt. Womöglich ist Kane überspielt oder aber der Leidtragende eines schwächelnden englischen Offensivsystems.
Europa, wo sind die starken Torhüter hin?
Das Niveau ganz vorn war schon mal ein anderes bei einer EM. Das gilt auch für ganz hinten. Während sich manche Torhüter, wie zum Beispiel Georgiens Giorgi Mamardashvili, ins Rampenlicht spielen konnten, fielen einige andere mit punktuellen Schwächen auf. Dabei gab es nahezu keinen Totalausfall, aber viele Keeper zeigten Unzulänglichkeiten.
Spaniens Unai Simón zum Beispiel ist inkonstant bei Abstößen und Abschlägen, Niederlandes Bart Verbruggen hat noch Nachholbedarf in der Strafraumbeherrschung und beim Abwehren von Flanken und Eckbällen. Und Deutschlands langjähriger Nationaltorwart Manuel Neuer wirkte immer wieder unsicher bei Fernschüssen. Selbst wenn er keinen Gegentreffer verschuldete, war es nicht der Neuer vergangener Tage.
Von den verbleibenden Teams im Halbfinale besitzt wohl England mit Jordan Pickford den aktuell konstantesten Keeper, aber auch er hat seine kleinen Schwächen, gerade im Spielaufbau. Ähnlich wie bei den Mittelstürmern wartet man auch bei den Torhütern darauf, dass eine neue Generation heranreift, die ähnlich wie zuvor Gianluigi Buffon, Iker Casillas und Co. für Ausnahmeklasse steht.
Die EM hat als gesamtes Spektakel viel Spaß bereitet, aber das fußballerische Niveau hätte bis jetzt besser sein können.