Ermittler-Legende Wilfling: „Warum jeder zum Mörder werden kann“

„Die meisten Mörder waren normale Menschen wie du und ich“, sagt Josef Wilfling. Der ehemalige Chef der Münchner Mordkomission muss es wissen: 42 Jahre lang war er Polizist, klärte spektakuläre Mordfälle auf - er ist eine wahre Ermittler-Legende. Das Beunruhigende: Wilfling ist davon überzeugt, dass in uns allen ein Mörder steckt. Warum, das hat er uns im Gespräch verraten.


Mit „Abgründe – Wenn aus Menschen Mördern werden“ haben Sie vor zwei Jahren ein Buch über Ihre Erlebnisse als Ermittler bei der Münchner Mordkommission herausgebracht. Was hat Sie dazu bewegt, nun ihr zweites Buch „Unheil - Warum jeder zum Mörder werden kann“ zu schreiben?



Josef Wilfling: Vorgesehen ist eine Art Trilogie. Das erste Buch „Abgründe“ handelte von den allgemeinen, vordergründigen Mordmotiven, die auch im Gesetz festgelegt sind und sich etwas an den sieben Todsünden orientieren. Jeder kann z.B. habgierig oder eifersüchtig sein – die Beweggründe, aus denen heraus Morde unter anderem passieren. In „Unheil“ geht es um die individuelle „Mörderwerdung“, um die Vorgeschichten. Wie es zum Mord kommen und warum wirklich jeder in eine Lage geraten kann, aus der heraus er zum Täter wird. 90 Prozent aller Tötungsdelikte werden von Menschen begangen, die eigentlich bislang keine kriminelle Energie an den Tag gelegt haben, die ein normales Leben geführt haben.

Gibt es Fälle, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Insgesamt habe ich 13 Fälle beschrieben. Alles sind Fälle, die von Täterinnen und Tätern begangen wurden, die in dieses „Raster“ hineinpassen. Der Artikel „Der Gutmütige“ handelt zum Beispiel von einem braven Familienvater, der seine Frau in flagranti mit einem anderen Mann erwischt - eine Situation, wie sie 100.000 Mal vorkommt. Dann eskaliert die Situation aber und plötzlich greift dieser unbescholtene Familienvater zum Messer und bringt seine Frau um. Warum? In der Situation der Demütigung, die wohl jeder nachvollziehen kann, kommt vielleicht noch eine zusätzliche Demütigung dazu, wenn die Frau sagt: „Was willst du denn überhaupt, unser Sohn ist auch nicht von dir.“ Das kann solch eine Eskalation, einen Mord, herbeiführen.

Mit der Demütigung haben Sie ein Beispiel für einen Schlüsselmoment genannt. Was sind denn andere Schlüsselmoment oder Muster, die einen Mord auslösen?

Es gibt drei Kategorien: Gier, emotionale Gründe wie Angst, und Hass. Angst als Mordmotiv oder auslösendes Moment wird immer etwas vernachlässigt, befindet sich aber auf Platz eins. Sie betrifft Existenzängste, Zukunftsängste, Angst vor finanziellem Ruin, Angst vor Schande oder auch Verlustangst. All die Familientragödien, die passieren, haben etwas mit Angst zu tun. Davon können Sie jede Woche in der Zeitung lesen, wenn etwa ein Ehemann seine Frau und oft sogar die Kinder umbringt, da er es nicht verkraften kann, verlassen zu werden. Das ist eine der häufigsten Antriebsfedern überhaupt. Der Mädchenmörder von Krailling (ein vierfacher Vater, der seine beiden Nichten brutal ermordete, Anm. der Redaktion) z.B., der eine für uns unfassbare Tat begangen hat, handelte, soweit man das beurteilen kann, aus einer Art Existenzangst heraus, weil er vor dem Ruin stand.

Welche der Kategorien können Sie am ehesten nachvollziehen?


Die emotionalen Gründe in erster Linie. Wir unterscheiden zwischen den rationalen – der eiskalt geplante Mord gehört dazu – und den tief emotionalen Gefühlen. Dazu zählen Kränkungen, Demütigungen, Denunziationen, Mobbing, Verzweiflung, Eifersucht, Hass, Zorn und all diese menschlichen Defizite. Die sind auch am häufigsten und können natürlich auch Mordgedanken auslösen. Zum Beispiel beschreibe ich einen Mord, begangen von einer Frau, die verheiratet, aber jahrelang die Geliebte eines anderen, ebenfalls verheirateten Mannes war. Dann lässt sie sich aus Liebe scheiden, ihr Geliebter natürlich nicht. Irgendwann ist dessen Frau hinter seine Affäre gekommen und hat ihn verlassen. Jetzt wäre er frei gewesen, jetzt hätte seine Geliebte ihn endlich für sich gehabt nach Jahren. Und was passiert? Er hat plötzlich eine Andere. Diese Frau hat den inneren Kampf, den sie durchlebt hat, zwischen Vernunft und negativen Emotionen, schön beschrieben. Gerade bei Beziehungstaten, gerade bei Menschen, die eigentlich keine kriminelle Energie haben, läuft dieser innere Kampf ab. Deshalb leite ich auch davon ab, dass wirklich jeder in eine solche Situation geraten kann. Wenn man diese Frau sechs Monate vorher gefragt hätte, ob sie sich vorstellen kann, dass sie sich eine Waffe besorgt, mit der sie ihren Geliebten umbringen will, dann hätte sie wahrscheinlich genauso wie Sie und ich gesagt: Undenkbar! Ich habe mich doch im Griff!

Kürzlich hat ein 18-Jähriger im „Mordfall Lena“ den Mord an dem elfjährigen Mädchen gestanden - ein brutales Sexualverbrechen. Sind wir wirklich alle selbst zu so einer Tat fähig?

Nein. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand zum Täter wird, ist sehr gering. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich jemals zum Sexual- oder Raubmörder werden könnte. Und 99,9 Prozent der Bevölkerung geht das genauso. Aber es kann Lebenssituationen geben, in denen man doch eine solche Entwicklung durchläuft. Denken Sie mal 70 Jahre zurück, wer da alles zu Mördern geworden ist.

Ich will auch keine Angst schüren oder mir anmaßen, philosophische Weisheiten von mir zu geben. Ich bin nur Polizist. Ich orientiere mich an dem, was auch bedeutende Philosophen sagen.Kein Geringerer als Goethe sagte einst: „Es gibt kein Verbrechen, das zu begehen ich nicht fähig wäre.“ Damit wollte er wohl dasselbe sagen wie Kant, der sagte, dass wir das Gute und Böse in uns haben. Aber wir haben auch einen freien Willen und können zwischen Gut und Böse unterscheiden - insofern man nicht krank ist, das ist wieder ein ganz anderes Thema. Wissenschaftlich belegt ist meine These nicht, aber aus meiner Berufserfahrung heraus musste ich sie zwangsläufig stellen. Gerade, wenn man es in 90 Prozent der Fälle immer wieder mit ganz normalen Menschen zu tun hat, die im familiären Bereich – wegen Scheidung, finanzieller Probleme, Eltern-Kinder-Konflikten – zu Mördern wurden. Nur in den seltensten Fällen hatte ich es mit Mafiosi, Berufsverbrechern oder Serienmördern zu tun. Die meisten Mörder waren normale Menschen wie du und ich. Ich glaube jeder kann in die Lage geraten, mörderische Gedanken zu haben.

Was können wir individuell oder gesellschaftlich gegen den „Mörder in uns“ tun?


Im Prinzip gar nichts. Die meisten Mörder haben keine prekäre Kindheit oder Gewalterfahrungen erlebt, ein normales Leben geführt. Vielleicht muss man ein bisschen genauer hinschauen, auf unheilvolle Entwicklungen achten. Kein Verbrechen passiert aus heiterem Himmel, sogar Affekttaten haben eine Vorgeschichte, und wenn es nur in der Person des Täters begründet ist, der mit Alkoholismus oder sozialem Absturz zu kämpfen hat. Wenn man in dieser Phase, in dieser unheilvollen Entwicklung – daher heißt auch das Buch „Unheil“ - , erkennt, „Hoppla, ich bin auf einem sehr gefährlichen Weg“ und rechtzeitig Hilfe findet oder sucht, dann könnte man evtl. verhindern, dass diese individuelle Mörderwerdung passiert. Aber gesellschaftlich zu verhindern, dass es Morde gibt? Da gibt es in meinen Augen nur eines: Das ist die Abschreckung.

Inwiefern lassen sich Mörder abschrecken?

Bei Tötungsdelikten, besonders bei Affekttaten, hat Abschreckung natürlich nur einen geringen Effekt. Aber unsere ganze Gesellschaft beruht auf Abschreckung. Oder bleiben Sie freiwillig bei Rot an der Ampel stehen? Die Strafe, die Ihnen droht, hält Sie davon ab.

Was mich stört, ist, dass die Befindlichkeiten der Täter im Gegensatz zu denen der Opfer, sehr oft im Fokus stehen. Ich habe überhaupt nichts gegen Resozialisierung. Aber erst kommt die Strafe, im Rahmen der Bestrafung kann man dem Täter dann Resozialisierungsmaßnahmen anbieten. Die allgemeine Bestrebung, dass es nur noch um die Befindlichkeiten der Täter geht, das muss mich als Praktiker erschüttern. Jetzt will man Mördern schon nach fünf Jahren Ausgang geben – was glauben Sie, was da in den Angehörigen der Opfer vor sich geht? Damit bin ich absolut nicht einverstanden. Das sage ich als Bürger, nicht als ehemaliger Polizist. In erster Linie kommt der Schutz der Bevölkerung und dann kommen die Befindlichkeiten von Mördern und Totschlägern.

Als Ermittler bei der Mordkommission zu arbeiten, erfordert viel Kraft. Woraus haben Sie diese geschöpft?

In erster Linie braucht man ein intaktes Familienleben, ein intaktes privates Umfeld, man braucht jemanden, der einem den Rücken stärkt, Kraft gibt. Wenn man private Probleme und Sorgen hat, kann man das nicht leisten. Das gilt auch für andere Berufe wie Arzt und Krankenschwester. Ich habe eine Frau, die immer hinter mir gestanden hat, die hat sicherlich auch einen Anteil daran. Das ist mit das Wichtigste.

Das Zweite ist, dass man die Dinge an sich heran lässt und damit richtig umgeht. Man darf sie nicht verdrängen, sondern muss sich mit den bösen Bildern auseinandersetzen. Und zwar, indem man darüber redet, etwa mit den Kollegen. Auch professionellen Abstand einzuhalten, ist wichtig. So kann man das Erlebte gut bewältigen.

Haben Sie eine Mission mit Ihren Büchern oder wollen Sie nur unterhalten?

Mission ist zu hoch gegriffen, aber ich will schon eine Botschaft vermitteln. Ich bin kein Psychologe, auch kein Philosoph oder Jurist. Ich will durch die Schilderung realer Fälle nur veranschaulichen, warum jeder zum Mörder werden kann. Ist das anerzogen oder angeboren? Ich kann mich nicht ein Vierteljahrhundert lang mit Mord- und Totschlag beschäftigen und mir nie diese Frage stellen. Ich stand oft an Tatorten oder hatte mit Tätern zu tun, wo ich mich gefragt habe: „Mein Gott, wie hätte ich jetzt an deren Stelle reagiert?“

Viele große Philosophen sind der Meinung, dass das Böse in uns steckt, und davon bin ich auch überzeugt. Es ist nur eine Frage, ob es durch irgendwelche Umstände aktiviert wird. Das ist wie Krebs. Bei manchen bricht er aus, bei den meisten Gott sei Dank nicht. Genauso, wie niemand sagen kann, ich werde niemals an Krebs erkranken, kann niemand sagen, ich könnte niemals zum Mörder werden. Das ist alles eine Frage der Emotionen. Da müsste einer ohne Emotionen geboren werden, und das gibt es ja nicht.

Josef Wilfling, Jahrgang 1947, war 42 Jahre lang im Polizeidienst tätig, 22 davon bei der Münchner Mordkommission. Der Vernehmungsspezialist klärte spektakuläre Fälle wie den Sedlmayr- und den Moshammer-Mord auf, schnappte Serientäter wie den Frauenmörder Horst David und verhörte Hunderte Kriminelle. Josef Wilfling ist verheiratet und lebt in München.