Ernährungswissenschaftler - Zu viel Hysterie bei Zucker: Was bestimmte Kinder wirklich dick macht
Inmitten hitziger Debatten um Zucker in Kindergetränken und Fettleibigkeit bei Jugendlichen erklärt Ernährungswissenschaftler Uwe Knop, ob Adipositas bei Kindern in Deutschland wirklich ein Problem ist und wie sie zustande kommt.
Eine neue Produktbewertung von foodwatch sowie eine Studie der Uni Bonn sorgen gerade wieder für mediale Aufmerksamkeit - warum?
Foodwatch hat Kindergetränke untersucht und festgestellt: Viele davon haben „zu viel“ Zucker. Da sei ungesund, weil es Kinder dick und krank machen würde, so die Behauptung. Und die Uni Bonn warnt fast zeitgleich: „Zuckerzufuhr bei Kindern und Jugendlichen sinkt - ist aber immer noch zu hoch“.
Da diese Botschaftern ins Bild der derzeitigen öffentlichen Meinung passen, haben zahlreiche Medien auf Basis beider News erneut vorm „bösen Zucker“ gewarnt - und unisono erfolgt postwendend der große Ruf nach politischen Schutzmaßnahmen. Doch dieses aktuelle Spiel der Meinungsmache offenbart das gravierende Problem unserer Zeit in puncto medialer Alarmmeldungen.
Was genau ist das Problem an solchen Meldungen?
Früher war Kausalevidenz die „harte Goldstandardwährung“ der Wissenschaft, also echte Ursache-Wirkungs-Belege, belastbare Beweise in Bezug auf harte klinische Endpunkte (wie Schlaganfall, Herzinfarkt, Tod) von gesundheitlicher Relevanz Heute dominieren wachsweiche Korrelationen - das sind ganz banale statistische Zusammenhänge, wo niemand weiß, ob sie ursächlich zusammenhängen.
Das ist übrigens schon lange der niedrige Standard der „Glaskugel Ernährungsforschung“. Als wäre das noch nicht genug Absenkung des Niveaus, so reichen heutzutage schon ganz schwache Surrogatparameter, um Alarm zu machen. Surrogate sind vermeintlich plausible Ersatzwerte, die man nimmt, wenn die wirklich wichtigen Faktoren fehlen.
Übersetzt in den aktuellen Fall bedeutet das: Diese Untersuchungen interessieren sich nicht mehr für den „Impact“, also die kausalen Auswirkungen von Zucker auf die Gesundheit, sondern es werden einfache Surrogate ("Softdrinks enthalten viel Zucker" und „Zuckerkonsum sinkt, ist aber trotzdem zu hoch“) erhoben und damit dann Alarm geschlagen, ohne zu wissen, ob der Alarm berechtigt ist - es ist also unbekannt, welche Auswirkungen diese Ersatzwert-Ergebnisse haben.
Also können Kinder bedenkenlos gezuckerte Softdrinks trinken?
Um eines klarzustellen: Ich bin kein Förderer von Softdrinkkonsum und dies ist kein Appell, mehr Limo zu trinken. Ganz im Gegenteil, ich selbst trinke diese Getränke kaum. Es gilt wie bei allem: maßvoll genießen, mit gesundem Menschenverstand und gutem Körpergefühl kaufen und konsumieren.
Es gibt ja auch genug Alternativen mit weniger süß oder zuckerfrei. Hier sind Eltern gefragt, was sie kaufen und ihren Kindern anbieten. Die Wissenschaft sollte sich vielmehr mit den wirklich wichtigen Fragen von Relevanz beschäftigen - dazu liegen einerseits jede Menge Daten vor, andererseits fehlen wesentliche Antworten noch immer.
Welche Fragestellungen sind im Kontext von Kinderernährung und Fettleibigkeit von Relevanz?
Davon gibt es eine Reihe:
Haben wir ein Problem mit fettleibigen Kindern? Nein. Fast 96 % der deutschen Kinder und Jugendlichen sind nicht fettleibig - und es ist auch kein Anstieg zu sehen, auch nicht während Corona. Leider fehlen richtig starke Verlaufsstudien, die gibt es derzeit hierzulande nicht.
Sind diese wenigen adipösen Kinder und Jugendlichen gleichmäßig in der Gesellschaft verteilt? Nein. Kinder sind häufiger übergewichtig, wenn sie in einer Familie mit geringem Haushaltseinkommen oder Migrationshintergrund aufwachsen oder ein Elternteil selbst Übergewicht hat. Wesentlich relevanter scheint jedoch der Bildungsstatus der Eltern zu sein, denn: Gesundheitsbezogene Risiken treten besonders in Familien mit niedrigem Bildungsniveau auf. Das ist lange bekannt - und wurde jüngst bestätigt von der Uni Ulm.
Weiß man sicher, warum Kinder und Jugendliche adipös werden? Nein. Welche Ursachen genau zu juveniler Adipositas führen, das ist unbekannt. Es weiß auch niemand, welchen konkreten Einfluss welches Essverhalten auf die wenigen Prozent fettleibiger Kinder in Deutschland hat.
Gibt es wirksame Maßnahmen gegen Adipositas im Kinder- und Jugendalter? Anknüpfend an vorgenannte Frage gilt: Umgekehrt weiß daher auch niemand, wie man die wenigen fettleibigen Kinder wieder dünn bekommt. Hier gibt es keinerlei erfolgreiche Maßnahmen, weder klinisch noch stationär und schon gar keine evidenzbasierten Empfehlungen für den elterlichen Hausgebrauch.
Wie könnte eine Softdrinksteuer dazu beitragen, das Problem der Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen zu bekämpfen? Wahrscheinlich überhaupt nicht. Denn die wissenschaftliche Datenlage ist so dünn wie eine Seifenblasenwand, die Studien dazu sind voller Limitierungen, die von den Autoren auch klar benannt werden.
Trinken Kinder überhaupt viel Softdrinks? Nein, zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen konsumieren weniger als dreimal pro Woche zuckerhaltige Erfrischungsgetränke - also maximal zwei Gläser Limo pro Woche, es können auch weniger sein. Diese aktuellen KIDA-Daten des Robert Koch-Instituts lassen die Relevanz der Lebensmittelgruppe Softdrinks bei der Entwicklung von Fettleibigkeit ins Minimale absacken.
Was sollten Wissenschaft und Politik denn tun, um fettleibigen Kinder wirklich zu helfen?
Grundsätzlich müssen es Maßnahmen sein, die exakt die Zielgruppe der Kinder aus schwachen sozialen Schichten adressieren und fokussiert die potenziellen Ursachen angehen. Genau diese Frage aber muss die Bundesregierung und besonders das „anti-adipös stets bemühte“ Bundesministerium für Ernährung beantworten - und dann entsprechend liefern.
Kaum zu glauben, aber wahr: Derzeit haben weder Özdemirs BMEL noch das BMFSFJ von Ministerin Lisa Paus und Karl Lauterbachs BMG konkrete Maßnahmen im Portfolio, die sich gezielt an besonders betroffene Zielgruppen richten, die ein sehr hohes Risiko für juvenile Adipositas haben: Kinder mit Migrationshintergrund aus einkommensschwachen Familien, deren Eltern selbst dick und schlecht gebildet sind.
Die Politik lässt diese Kinder allein - und sonnt sich stattdessen lieber im öffentlichen Licht von Steuern und Verboten für alle.