Erschütterndes Lagebild - Industrie schlägt Alarm: „Geschäftsmodell Deutschlands ist in ernster Gefahr“

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Die Industrie veröffentlicht alarmierende PrognosenJens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa

Die Industrie klagt seit langem über Wettbewerbsnachteile gegenüber der internationalen Konkurrenz. Doch die Situation hat sich verschärft, wie eine neue Analyse zeigt. Droht eine Deindustrialisierung?

Die deutsche Wirtschaft schlägt Alarm. Sie sieht den Standort Deutschland mehr denn je unter Druck. Rund ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung sei gefährdet, heißt es in einer Studie für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Um international wettbewerbsfähig zu bleiben, seien bis 2030 zusätzliche private und öffentliche Investitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro nötig.

BDI-Präsident Siegfried Russwurm sprach am Dienstag in Berlin von einem erschütternden Lagebild. Deutschland sei im internationalen Vergleich nahezu überall in den vergangenen Jahren zurückgefallen und habe ein fundamentales Standortproblem. „Das Risiko einer De-Industrialisierung durch die stille Abwanderung und Aufgabe gerade vieler Mittelständler nimmt kontinuierlich zu und ist teils schon eingetreten.“

Weckruf der Industrie

Im Auftrag des BDI haben die Strategieberatung Boston Consulting Group und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine breit angelegte Analyse vorgelegt - zu den Schwächen, aber auch den Chancen der deutschen Industrie mit ihren Millionen Beschäftigten. Die Ergebnisse sind aus Sicht der Industrie ähnlich alarmierend wie ein Bericht des früheren italienischen Regierungschefs und EZB-Präsidenten Mario Draghi zur Lage in der EU. Draghi schrieb, die europäische Wirtschaft müsse deutlich innovativer werden, um im Wettbewerb mit den USA oder China nicht den Anschluss zu verlieren.

Die Ergebnisse seiner Studie bezeichnete der BDI als Weckruf. „Die Probleme im Land türmen sich“, sagte Russwurm. Die Industrie leiste mit rund 20 Prozent der Bruttowertschöpfung einen erheblich größeren Beitrag für den Wohlstand des Landes als in den meisten anderen entwickelte Volkswirtschaften. „Doch aktuell ist das Geschäftsmodell Deutschlands in ernster Gefahr.“

„Auf KI-Revolution nicht vorbereitet“

Russwurm nannte im internationalen Vergleich höhere Energiepreise, eine marode Verkehrsinfrastruktur, ein nicht wettbewerbsfähiges Steuersystem und politische Unsicherheiten. Dazu kämen hohe Arbeitskosten, zunehmender Arbeitskräftemangel, eine ausufernde Bürokratie, ein zu langsamer Ausbau der Stromnetze und eine schleppende Digitalisierung.

Beispiel: Die für modernste digitale Anwendungen notwendige Glasfaserabdeckung falle weit gegenüber anderen Ländern ab. Mit derzeit nur 39 Prozent erreichten Unternehmen liege Deutschland weit hinter Ländern wie Spanien oder Frankreich. „Auf die anstehende KI-Revolution ist Deutschlands digitale Infrastruktur damit denkbar schlecht vorbereitet“, heißt es in der Studie.

Säulen geraten ins Wanken

Anders als früher ließen sich diese Wettbewerbsnachteile immer weniger durch die traditionellen Stärken der deutschen Industrie ausgleichen - Produktivität und Innovationen. Und: „Mehrere Säulen des bisherigen deutschen Industrieerfolgs sind gleichzeitig ins Wanken geraten: Die Zeit günstiger fossiler Gasimporte ist mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wahrscheinlich auf absehbare Zeit vorbei.“ Weiter heißt es unter anderem, ein Vorsprung in Bereichen wie der Verbrennertechnologie verliere an Bedeutung.

Vor allem der deutschen Automobilindustrie und Unternehmen im fossilen Anlagenbau drohe ein erheblich schrumpfender Weltmarkt für ihre Kerntechnologien. „Ohne entschlossenes Gegensteuern droht Deutschland ein Szenario schleichender Deindustrialisierung, in dem energieintensive Industriesektoren ihre Produktion nach und nach an andere Standorte verlagern, die Automobilindustrie bei der Elektromobilität deutlich an Weltmarktanteilen verliert und deutsche Unternehmen bei Zukunftstechnologien ins Hintertreffen geraten.“

IW-Direktor Michael Hüther sagte unter Verweis auf die enge Verflechtung von Industriesektoren, in Krisensituationen könne die Schwäche einer einzelnen Branche die Wertschöpfung in der Breite gefährden.

Industrienation muss sich neu erfinden

Russwurm forderte mit Blick auf die Politik einen „großen Wurf“, um Deutschland im internationalen Wettbewerb wieder nach vorne zu bringen und Ziele bei der klimafreundlichen Transformation der Wirtschaft erreichen zu können. Branchen wie die Stahlindustrie müssen ihre Produktionsprozesse umstellen.

Deutschland müsse sich als Industrienation neu erfinden, heißt es in der Studie. Der Umbau erfordere eine der größten Transformationsanstrengungen seit der Nachkriegszeit.

Hohe Kosten

Die genannten 1,4 Billionen Euro an Investitionen nannte Russwurm „irre viel Geld“. Aber ein Scheitern der Transformation werde noch viel teurer. Konkret geht es bei der Summe laut Studie um erhebliche Investitionen in die Infrastruktur, Bildung und Gebäude - daneben darum, Abhängigkeiten in den Lieferketten kritischer Produkte zu verringern, zudem gehe es um die „grüne“ Transformation der Industrie.

Gut zwei Drittel der 1,4 Billionen Euro seien private Investitionen, es gebe aber bisher zu wenig staatliche Anreize, damit Unternehmen investieren. Dabei habe Deutschland vor allem in den Bereichen Klimatechnologien, industrielle Automatisierung und Gesundheit eine gute Ausgangssituation, um neue Industriewertschöpfung aufzubauen.

Pläne der Regierung reichen nicht

Die Wirtschaft steckt derzeit in einer Wachstumsschwäche fest. Die Bundesregierung arbeitet an der Umsetzung einer „Wachstumsinitiative“ - geplant sind zum Beispiel Verbesserungen bei Abschreibungen von Investitionen, der Abbau von Bürokratie sowie Anreize für längeres Arbeiten. Der BDI hält die Pläne aber für nicht ausreichend. Der Verband fordert grundlegende Reformen zum Beispiel bei Steuern und Energie. So benötige die energieintensive Industrie zielgerichtete finanzielle Unterstützung und besseren Zugang zu CO2-armen Energieträgern.