Aufgestockte Rente - „Friere, bin einsam“: Empfängerin erklärt, warum Grundsicherung kaum zum Leben reicht

Bedürftige Rentner mit entfallenen Ansprüchen aus DDR-Zeiten können Anträge auf einen Härtefallfonds stellen. (Archivbild)<span class="copyright">Karl-Josef Hildenbrand/dpa</span>
Bedürftige Rentner mit entfallenen Ansprüchen aus DDR-Zeiten können Anträge auf einen Härtefallfonds stellen. (Archivbild)Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Heike Bracht bezieht Erwerbsminderungsrente mit Aufstockung. Den ganzen Winter über friert sie, die Heizung hochzudrehen wäre zu teuer. Dabei dachte sie mal: Wenn ich alles richtig mache, bleibe ich verschont.

FOCUS online: Sie sind besorgt über die drohenden Kürzungen beim Bürgergeld und haben sich bereit erklärt, Einblick in Ihr Leben zu geben.

Heike Bracht*: Ja, ich beziehe selbst auch Grundsicherung.

Also Bürgergeld?

Bracht: In meinem Fall ist es eine Erwerbsminderungsrente mit Aufstockung, aber der Betrag ist derselbe. Und ich kann Ihnen sagen: Es ist verdammt hart, so zu leben. Umso fassungsloser bin ich, wenn ich die derzeitigen Debatten verfolge. Da diskutieren Menschen über etwas, von dem sie keine Ahnung haben. Schlagen Kürzungen vor, wo man beim besten Willen nicht mehr kürzen kann. Nur so als Beispiel, die Raumtemperatur hier in meiner Wohnung beträgt derzeit 16 Grad. Ich friere die ganze Zeit. Und ich bin dauernd krank, den ganzen Winter über. Ehrlich gesagt, das hätte ich mir früher auch nicht vorstellen können.

Bevor Sie Erwerbsminderungsrente bekamen?

Bracht: Ja, in dieser Situation bin ich seit etwas mehr als zehn Jahren. Davor war ich im öffentlichen Dienst tätig, in der Verwaltung. Ich hatte mal gut 1500 Euro netto im Monat. Jetzt habe ich wie gesagt Grundsicherung: 563 Euro als Regelsatz wie für Alleinstehende üblich plus Miete. Die übernimmt das Amt.

Bürgergeld und das Problem der Angemessenheitsgrenze

Und die Nebenkosten wie die Heizung, die etwa nicht?

Bracht: Es ist so dass die Heizkosten „angemessen“ sein müssen, damit sie übernommen werden. Und was von Amtsseite als „angemessen“ betrachtet wird, entspricht nicht unbedingt dem tatsächlichen Heizbedarf, den man hat. Die Gasrechnung muss ich selbst begleichen, das ist eine Sache zwischen dem Versorger und mir.

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Im Moment zahle ich etwa 80 Euro im Monat für Gas. Dieser Betrag wird vom Amt übernommen. Um bei diesem Betrag zu bleiben, muss ich die Wohnungstemperatur gut im Auge behalten. Würde ich die Heizung beispielsweise auf 19 Grad hochregeln, hätte ich ein Problem. Deshalb trage ich in diesen Tagen wie schon in den vergangenen Wintern bis zu fünf Lagen Kleidung übereinander. Nachts decke ich mich mit mehreren Decken zu. Ich sehe nicht, was die Alternative wäre. Wenn ich bei den Heizkosten über die Angemessenheitsgrenze gehe, fehlt das Geld an anderer Stelle.

Heißt: Sie müssten das Gas dann mit Geld bezahlen, das eigentlich für einen anderen Posten vorgesehen ist?

Bracht: Genau. Stellen Sie sich die Grundsicherung wie einen Kuchen mit mehreren Stücken vor. Jedes Stück ist für etwas anderes vorgesehen und steht für einen definierten Betrag. Nimmt man alle Stücke zusammen, kommt man auf die 563 Euro. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will - der Kuchen ist irgendwann aufgegessen, eher früher als später. Wenn ich zum Beispiel mehr als die vorgesehenen 21,49 Euro für Medikamente ausgebe, fehlt mir das Geld an anderer Stelle.

Reichen die 21,49 Euro denn nicht für Medikamente?

Bracht: Auf keinen Fall. Damit hinzukommen wäre vermutlich schon für einen gesunden Menschen, der sich ja auch hin und wieder etwas gegen eine Erkältung oder einen Infekt in der Apotheke holt, nicht so einfach. Bei mir ist es so, dass ich ständig Infekte habe. Ich bin chronisch krank, leide unter verschiedenen Entzündungskrankheiten und Allergien.

Es hat mal jemand zu mir gesagt: „Wenn man krank ist, braucht man halt mal Nasentropfen“, das sei doch normal. Ja das stimmt, habe ich geantwortet. Aber jemand wie ich, der nicht nur „mal“, sondern chronisch krank ist, braucht darüber hinaus einiges mehr. Ich kann nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die das nicht akzeptieren können. Nur weil jemand wie man selbst zwei Arme und zwei Beine hat, ist doch in seinem Leben nicht alles genau gleich.

Zuzahlungen selbst bei verschreibungspflichtigen Medikamenten

Können Sie beziffern, wie viel Geld sie im Monat für Medikamente ausgeben?

Bracht: Das sind etwa 80 Euro, die ich für nicht verschreibungspflichtige Medikamente brauche.

Verschreibungspflichtige Medikamente brauchen Sie nicht zu bezahlen, richtig?

Bracht:
Doch. Wenn man in Grundsicherung ist, muss man auch Zuzahlungen zu verschreibungspflichtigen Medikamenten leisten.

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Über was genau sprechen wir bei den nicht verschreibungspflichtigen Präparaten? Über Wellness-Produkte? Nahrungsergänzungsmittel?

Bracht: Tatsächlich unter anderem über Letzteres und ich ahne schon, viele gehen hier direkt zum Angriff über. Die Wahrheit ist: Aufgrund meiner Allergien kann ich bestimmte Lebensmittel nicht essen, Lebensmittel, die als gesund gelten.

Obst und Gemüse?

Bracht: Genau. Da die darin enthaltenen Nährstoffe aber wichtig sind, greife ich zu Nahrungsergänzungsmitteln. Oder nehme diese Kapseln ein, für den Darm.

Probiotika? Das ist im Moment ein ziemlicher Trend…

Bracht: Ich folge hier keinem Trend, sondern versuche, so meine Gesundheit einigermaßen aufrecht zu erhalten. Das Mittel, das ich nehme, ist für die Darmsanierung und -Instandhaltung da. Wohl jeder dürfte mitbekommen haben, dass man mittlerweile sehr viel über die Bedeutung des Darms für die Gesundheit insgesamt weiß. Vereinfacht: Ist der Darm krank, ist der Mensch krank. Ohne das Mittel könnte ich schnell im Krankenhaus landen. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich Salben und Wunddesinfektionssprays oder sterile Wundauflagen kaufen muss, die von der Krankenkasse nicht erstattet werden.

Wofür man Geld ausgibt, muss gut überlegt sein

Salben? Also Pflegeprodukte?

Bracht: Ich weiß nicht, ob die genannten Dinge unter diesen Begriff fallen. Fakt ist: Meine Entzündungsproblematik zeigt sich leider auch auf der Haut. Manchmal fühlt es sich an, als würden 100 Insekten gleichzeitig zustechen. Die verschiedenen Produkte brauche ich, um das Entzündungsgeschehen aufzuhalten. Damit daraus zum Beispiel keine Gewebeentzündung wird. Ich finde nicht, dass das Wellness ist. Aber wie gesagt, die Salbe wird nicht bezahlt. Wissen Sie, es gibt einen Grund, weshalb Menschen, die Grundsicherung bekommen, deutlich früher sterben. Ich habe mal gehört acht Jahre früher. Sie können mir glauben: Ich habe mir das gut überlegt, ob ich wirklich über den Regelsatz, der für die so genannte „Gesundheitspflege“ vorgesehenen ist, hinausgehen will.

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Und?

Bracht: Ich habe beschlossen, meine Gesundheit zu priorisieren. Das sind tatsächlich Entscheidungen, die man aktiv fällt. Nehmen wir den Regelsatz Verkehr. Für den Öffentlichen Nahverkehr sieht die Pauschale 50,50 Euro pro Monat vor. Weil ich das Geld an anderer Stelle brauche, bleibe ich die meiste Zeit zu Hause. Ich kann mir vorstellen, dass sich jetzt viele wundern…

„Busfahren kann ich mir nicht leisten“

Worüber?

Bracht: Na, darüber, dass ich mir Busfahren nicht leisten kann. Die Masse denkt: Wer Grundsicherung bekommt, bekommt quasi automatisch ein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr gestellt. So ist das nicht. Und wie gesagt, bei den Nebenkosten für die Wohnung ist es auch nicht so. Man hat da keine Flatrate oder sowas. Es ist nicht übertrieben, wenn Leistungsbezieher sagen, dass sie im Winter frieren! Übrigens: Dass die meisten von uns in zugigen Altbauten leben, macht die Sache nicht einfacher. Aber das liegt nun mal in der Natur der Sache.

Was genau?

Bracht: Wir werden nun mal nicht unbedingt als vertrauensvolle Mieter angesehen. In den Genuss einer guten – sprich: gedämmten - Wohnung kommen wir damit gar nicht erst. Und es ist nun mal ein Unterschied, ob ich den Betrag, den ich fürs Heizen bekomme, in einem Neubau oder in einem Altbau verwende. Die tatsächliche Lebensrealität von uns Leistungsempfängern interessiert die Ämter leider wenig. Nehmen Sie mich mit meinen chronischen Infekten. Mein Arzt sagt, für mich seien 19 Grad die absolute Untergrenze, kälter dürfte es in meiner Wohnung nicht werden. Ich habe eigentlich einen Mehrbedarf, ich habe das sogar schriftlich in einem Attest stehen. Aber als ich das Amt in dieser Sache angeschrieben habe, kam keine Antwort. Was bleibt mir also anderes übrig, als die Verteilung der Kuchenstücke… nennen wir es mal freundlich: variabel zu gestalten?

Man muss abwägen: Medikamente statt Heizung

Medikamente statt Heizung, meinen Sie das?

Bracht: Oder nehmen wir das Stichwort soziale Teilhabe. Die ist bei mir einfach nicht drin. Wie soll das gehen, ohne Bus zu fahren oder ohne mal in ein Café gehen zu können? Mein Leben ist sehr einsam. Ich fühle mich schon lange nicht mehr als Teil dieser Gesellschaft. Seit etwa zehn Jahren gehöre ich zu denen, von denen ich selbst mal dachte: Da landest du nie!

Haben Sie also Verständnis, wenn Menschen so denken?

Bracht: Ja und nein. Jeder weiß eigentlich, dass einen ein Unfall oder eine schwere Krankheit treffen kann. Und trotzdem denkt man - und dachte ich - dass einem selbst das doch nicht passieren würde: Wenn ich mich nur anstrenge und alles richtig mache, bleibe ich vom Schicksal verschont. Ein Stück weit ist das natürlich Selbstschutz. Auch, wenn Leute sich denken, Leistungsempfänger hätten diese Situation selbst zu verantworten. Mein Eindruck ist, dass solche Überzeugungen im Moment zunehmen.

„Ich gehöre zu denen, von denen ich dachte: Da landest du nie!“

Verurteilen Sie das?


Bracht: Sagen wir es mal so: Vorurteile gab es schon immer. Ich erinnere mich noch gut, wie ich vor vielen Jahren, als ich noch erwerbsfähig war, diese Doku im Fernsehen gesehen hab. Eine junge Frau, alleinerziehend, ein kleiner Sohn. Sie bekam Hartz IV und irrte verzweifelt durch die Wohnung. Schon wieder konnte sie dem Jungen nur Spaghetti übrig mit Tomatenmark zum Mittagessen anbieten. Ich fand das verstörend. Konnte sowas wirklich sein?

Hand aufs Herz: Hatten Sie den Eindruck, die Frau übertreibt?

Bracht: Das ist es ja gerade. Diesen Eindruck hatte ich nicht. Ich behaupte mal, wer einigermaßen mitfühlend ist, der spürt, ob Menschen echt sind. Diese Frau war echt. Das war mir total klar. Aber zwischen etwas wissen und etwas wirklich begreifen gibt es einen Unterschied. Ich fürchte, wer eine Situation wie die meinige, nicht selbst erlebt hat, wird sich immer schwertun. Noch mal: Vorurteile gab es schon immer. Die Frage ist aber doch, ob wir ihnen freien Lauf lassen…

Oder?

Bracht: … wenigstens ab und zu innehalten. Und Fragen stelle. Es macht einen Unterschied, ob ich diese Vorurteile laut hinausschreie und die Not der Menschen damit weiter befeuere. Oder ob ich mich zumindest gelegentlich zurückhole. Im Moment wird alles Mögliche rausgeschrien. Lauter denn je. Gerade auch von den Verantwortlichen in der Politik. Hauptsache es bringt Wählerstimmen. Als Gesellschaft bringt uns das überhaupt nicht weiter.

„Viele sind überrascht, wenn ich sage, dass ich Angst habe auf der Straße zu landen“

Was brächte uns weiter?

Bracht: Information. Für den Abbau von Vorurteilen. Ich kann zum Beispiel hingehen und mich über Dokus oder seriös recherchierte Beiträge schlaumachen. Ich kann auch mit betroffenen Menschen sprechen, sie ihre Situation schildern lassen. Was erfährt man da? Vielleicht das ein oder andere, womit man nicht gerechnet hat… Viele sind zum Beispiel überrascht, wenn ich sage, dass ich Angst habe, auf der Straße zu landen.

Muss man davor in Deutschland wirklich Angst haben? 

Bracht: Ich weiß, dass viele denken, diese Angst sei unbegründet. Aber ich habe sie. Es ist eine Dauerangst. Schauen Sie, der Kuchen wirkt auf den ersten Blick schön strukturiert. Aber es können unvorhergesehene Dinge passieren.

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Die kaputte Waschmaschine?

Bracht: Zum Beispiel. Ich weiß schon, was jetzt wieder viele denken. Da braucht sie doch nur aufs Amt zu gehen…

Stimmt das denn nicht?

Bracht: Nein. „Das ist bereits eingerechnet“ heißt es dann. In den Kuchen, wenn Sie so wollen. Als sei da zum Ende des Monats auch nur ein Bröselchen übrig, um es zur Seite zu legen…

*Name der Redaktion bekannt