Erziehungsexpertin Katia Saalfrank - Ihr Kind wendet sich in der Pubertät von Ihnen ab? 10 Dinge sind jetzt wichtig

In der Pubertät verändert sich die Bindung zwischen Eltern und Kind<span class="copyright">Getty Images</span>
In der Pubertät verändert sich die Bindung zwischen Eltern und KindGetty Images

Schon der Gedanke an die Pubertät macht vielen Eltern Angst. Sie fürchten, die Verbindung zu ihrem Kind zu verlieren. Pädagogin Katia Saalfrank erklärt, was Eltern in dieser Phase tun können.

Viele Eltern fürchten sich vor dem Moment, in dem aus ihrem Kind ein Teenager wird. Das Kind, das eben noch so verkuschelt war, geht plötzlich auf Abstand, zieht sich zurück und will am liebsten nur noch nach seinen eigenen Regeln leben.

Diese neue Phase stellt für Eltern und Kinder gleichermaßen eine Herausforderung dar. Die Bindung verändert sich, die Bedingungen der Eltern-Kind-Beziehungen werden neu verhandelt. Und all das geht auch mit einer Trauer einher. Das Alte muss verabschiedet werden, um das Neue mit offenem Herzen begrüßen zu können.

Was Eltern in dieser schwierigen Zeit helfen kann, ist zunächst einmal zu lernen und sich bewusst zu machen, was ihr Kind in dieser neuen Lebensphase durchmacht und was es jetzt braucht. Denn auch wenn es manchmal den Anschein macht, als seien die Eltern plötzlich abgemeldet – Kinder und Jugendliche in der Pubertät brauchen sie noch immer als sicheren Hafen in ihrem Leben.

Was verändert sich in der Pubertät beim Kind?

Über mehrere Jahre hinweg stecken die Kinder nun in einer Übergangsphase zwischen dem Kind- und Erwachsensein. Das ist nicht einfach, weil sie nun manche Sonderrechte aufgeben müssen, die sie als kleinere Kinder noch hatten. Gewissermaßen ist ihre Schonfrist jetzt vorbei und sie stehen plötzlich neuen gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber. Je nach Gefühlslage möchten sie manchmal groß sein – in anderen Momenten wollen sie am liebsten noch klein sein. Die Kinder durchleben mehrere chaotische Phasen, denn ihre Denkfähigkeiten verändern sich – oft verstehen sie sich selbst nicht und fühlen sich verloren. Diese Verunsicherung verursacht nicht selten überwältigende Emotionen, die zu starken Gefühlsausbrüchen führen können.

All das müssen Eltern im Hinterkopf haben, um ihren Kindern jetzt mit Mitgefühl begegnen zu können, auch wenn die Kinder sich auf eine Art und Weise verhalten, die auf Eltern verletzend wirkt, weil die Kinder sich scheinbar von ihnen abwenden.

In der Pubertät verändert sich die Bindung zwischen Eltern und Kindern

„Die tiefgreifendste Veränderung während der Pubertät betrifft das Bindungsverhalten“, erklärt die Diplom-Pädagogin und Erziehungsexpertin Katia Saalfrank. „Die Bindung zu den Eltern verändert sich so, dass eine emotionale Abhängigkeit beim Jugendlichen nur noch wenig besteht oder entfällt. Diese Veränderung im Bindungsverhalten erleben Eltern als Ablösung.“

Doch Saalfrank betont, dass das Bindungsbedürfnis der Jugendlichen nicht verschwindet – es orientiere sich nur neu.

In den Jahren vor der Pubertät waren die Eltern noch die wichtigsten Bezugspersonen für das Kind. Doch nun treten an ihre Stelle gleichaltrige Freunde. Bei ihnen suchen die Jugendlichen von nun an Geborgenheit, Zuwendung und unzerstörbare Beziehungen. Sie suchen nach Freunden, die so zu ihnen halten, wie es vorher die Eltern getan haben.

„Das kränkt Eltern oft“, erklärt Katia Saalfrank. „Sie versuchen dann zu beschränken oder machen Vorschriften, die häufig zu Konflikten führen.“

Ablösung und Neuorientierung in der Pubertät

Um Konflikte zu vermeiden, ist es sinnvoll, sich als Eltern sowohl emotional als auch rational auf diese neue Phase einzustellen. Die Entwicklung kann ohnehin nicht aufgehalten werden. Je mehr Verständnis Eltern ihren jugendlichen Kindern jetzt entgegenbringen können, desto stabiler kann ihre Beziehung bleiben. Saalfrank beschreibt, wie sich die Ablösung und Neuorientierung der Jugendlichen auswirken kann:

  • Der Jugendliche möchte jetzt selbst entscheiden , wann er isst und was er anzieht. Er lehnt die Fürsorge der Eltern ab, er möchte über seinen Körper verfügen . Dabei ist es ihm manchmal egal, ob sein Verhalten sinnvoll oder gesund ist. Er nimmt die Hilfe der Eltern jedoch in Anspruch, wenn er nicht mehr weiterweiß (sofern er bereits gute Beziehungserfahrungen gemacht hat).

  • Die Bindung zu den Eltern schwächt sich so weit ab, dass der Jugendliche sich frei fühlt. Frei für andere Beziehungen und in der Folge dann später frei dafür, eine eigene Familie gründen zu können.

  • Der Jugendliche geht zu den Eltern auf Distanz. Er spricht kaum mit ihnen und empfindet ihre Äußerungen als Einmischung, vermeidet Blickkontakt, will manchmal nicht mal mehr grüßen.

  • Die körperliche Distanz zu den Eltern wird größer, Körperkontakte verringern sich oder werden vollständig vermieden.

  • Der Jugendliche ist oft selbst verstört in dieser Zeit und spürt Unsicherheit.

  • Durch die Ablösung brauchen und wollen die Jugendlichen nicht mehr so viel Schutz und Nähe der Eltern wie früher. Viel Zeit und Kraft wird nun verwendet, sich einen Platz in der Gruppe der Gleichaltrigen zu schaffen. Dort möchten sie anerkannt und gemocht werden. Die Anerkennung ihrer Erscheinung und ihrer Fähigkeiten ist Jugendlichen in dieser Zeit enorm wichtig. Um von den Freunden angenommen zu werden, sind sie bereit, Risiken einzugehen. Von den anderen Heranwachsenden abgelehnt oder nicht akzeptiert zu werden, ist das Schlimmste, was einem Jugendlichen passieren kann.

  • Für Eltern ist diese Ablösung ein emotionaler Verlust , sie müssen Abschied nehmen und Trauerarbeit leisten.

 

„Irgendwann bekommen Eltern ihren ‚Stammplatz‘ unter den wichtigsten ‚Lebensmenschen‘ der Kinder zurück“

Doch trotz all dieser Veränderungen bleiben die grundlegendenden Bedürfnisse der Kinder gleich. Sie brauchen noch immer Wurzeln und Flügel.

Wurzeln können Eltern geben, indem sie weiterhin Struktur vorgeben, Vorbild sind, Impulse und Ideen geben und vor allem signalisieren, dass weiterhin da sind und das Kind sich immer an sie wenden kann.

Flügel können Eltern geben, indem sie die Entwicklung ihrer jugendlichen Kinder wohlwollend begleiten, ihnen Freiräume ermöglichen, statt neue Verbote zu schaffen, und ihnen einen Vertrauensvorschuss gewähren.

Katia Saalfrank empfiehlt Eltern in dieser Phase, gelassen zu bleiben und den Veränderungen mit Humor zu begegnen. „Irgendwann bekommen Eltern ihren ‚Stammplatz‘ unter den wichtigsten ‚Lebensmenschen‘ der Kinder zurück“, sagt die Pädagogin.

 

10 Tipps für Eltern von Teenagern

Doch wie können Eltern gut in ihre neue Rolle finden? Saalfrank hat 10 wichtige Tipps:

  1. Auch wenn du dich zurückgestoßen und unnütz fühlst: Halte Kontakt zu deinem Kind und verweigere nicht deine Unterstützung – im Gegenteil: Sei präsent, sensibel und wachsam, aber unaufdringlich. Der Jugendliche braucht sein zu Hause und dich (noch), als sicheren Hort, an den er zurückkehren kann, wenn etwas nicht so gut läuft wie gedacht (auch, wenn er Anderes sagt oder signalisiert) – halte immer die Tür offen!

  2. Mache deinem Kind Mut, bestärke es und begleite es, indem du von dir und deinen Erfahrungen berichtest.

  3. Konkurriere nicht im Wettbewerb mit seinen Freunden um seine Zuneigung. Bring deine Meinung ein, bezieh Position, ohne zu erwarten, dass der Jugendliche sich danach richten wird. Hab Verständnis dafür, dass der Jugendliche seine eigenen Erfahrungen machen möchte und auch machen muss!

  4. Die Aufnahme von Freundschaften ist eine wichtige Station auf dem Weg in die Eigenständigkeit und ist nicht gegen die Eltern gerichtet.

  5. Auch wenn deine Kinder es nicht zugeben bzw. sich nicht danach richten: Die Meinung ihrer Eltern ist ihnen trotzdem wichtig. Sie werden es allerdings nicht zeigen, indem sie sagen: Danke, dass Du mich vor allem gewarnt und mir in weiser Vorausschau gesagt hast, was passieren wird, ich bin sehr dankbar.

  6. Wenn die Offenheit sinkt, stellt das kein Misstrauensvotum für dich dar. Für manche Themen sind jetzt die Freunde da, aber für andere (Beruf; ethische und moralische Fragen) bist du der Ansprechpartner.

  7. Eltern sind für die Jugendlichen wichtig in dieser Zeit, auch wenn die Jugendlichen das nicht zeigen. Sie sind wie eine Art Basislager beim Gletscheraufstieg. Eine vertrauensvolle Beziehung bietet eine Grundlage für die Jugendlichen, um sich auszuprobieren.

  8. Erlaube Diskussionen – deine Kinder wollen und müssen das mit dir ausprobieren – und verhindere Machtkämpfe.

  9. Verbundensein und Ablösen schließen sich nicht aus, sie gehören zusammen. Stelle deinen jugendlichen Kindern Raum für Eigenständigkeit und Autonomie zur Verfügung, sodass sie nicht den Eindruck bekommen, weggehen zu müssen, um eigenständig zu werden.

  10. Sieh diese besondere Stärke deiner Kinder in dieser Zeit – sie strotzen vor Kraft und Lebenshunger und brauchen deine Rückmeldung! Beende das defizitäre Hinschauen. Dein Kind braucht nach wie vor das Gefühl, dass es okay ist, so wie es ist und auch so geliebt wird.

Loslassen und Vertrauen macht stark

Für Eltern ist die Pubertät ihrer Kinder also eine Zeit, die vom Loslassen und vielen kleinen Abschieden geprägt ist. Das Loslassen kann schwerfallen und gelingt am besten, wenn man vertrauen kann: Darauf, dass das Kind seinen Weg finden wird und darauf, dass man als Eltern alles getan hat, um ihm den Rücken zu stärken.

Auch ein gewisses Vetrauen in die Umwelt gehört dazu, so schwer es auch fallen mag. Eltern müssen ihren Kindern jetzt ermöglichen, die Welt zu erkunden, ohne ihnen zu zeigen, wie viel Angst es ihnen selbst vielleicht bereiten mag. Für eine gesunde Ich-Entwicklung brauchen Jugendliche jetzt vor allem Raum – und die Gewissheit, dass ihre Eltern weiterhin im Hintergrund stehen und bei Bedarf zu Hilfe kommen können.

Wenn Eltern es schaffen, ihren Kindern in der Pubertät mit Respekt und auf Augenhöhe zu begegnen, nicht auf ihren Standpunkten zu beharren, zu erspüren, was die Kinder jetzt brauchen und auf Bevormundung und Machtmissbrauch verzichten, können sie eine gute Beziehung zu ihrem Kind beibehalten und müssen sich vor dieser wichtigen Entwicklungsphase nicht fürchten.