Eskalation im Nahen Osten - Experte warnt: „Iran setzt auf gefährliches Spiel mit Israel“

Ein größerer regionaler Krieg ist nicht zwangsläufig die Folge des iranischen Angriffs auf Israel.<span class="copyright">Getty Images / Anadolu</span>
Ein größerer regionaler Krieg ist nicht zwangsläufig die Folge des iranischen Angriffs auf Israel.Getty Images / Anadolu

Erneut eskaliert der Konflikt zwischen Iran und Israel, nachdem der Iran Dutzende Raketen abgefeuert hat. Israel konnte sich verteidigen, doch die Lage bleibt brisant. Terrorismus-Experte Hans-Jakob Schindler analysiert, welche Szenarien nun denkbar sind.

Welche Motive könnten hinter dem zweiten Angriff des Iran auf Israel stehen?

Das iranische Regime stand in den letzten Tagen und Wochen unter enormen Handlungsdruck. Durch die Tötung von Ismail Haniyeh, dem Chef der Hamas in Teheran Ende Juli und der Tötung Hassan Nasrallahs in Beirut Ende September wurden zwei der Führer des Netzwerkes iranischer Ableger in der Region ausgeschaltet. Damit wurde eine wenn auch nur temporäre Schwächung dieses Netzwerkes, zu dem neben der Hamas und der Hisbollah auch die Houthis in Yemen, schiitische Militzen im Irak, Gruppen in Syrien und Zellen im Bahrain gehören erreicht. Dieses Netzwerk wurde durch das iranische Regime in den letzten Jahrzehnten sehr gezielt aufgebaut, um Einfluss in der Region zu projizieren.

Das iranische Regime ist sich bewußt, dass es im regionalen Wettstreit um Vormacht mit konventionellen Instrumenten weder militärisch noch ökonomisch noch politisch bestehen kann. Daher nutzt das iranische Regime dieses Netzwerk nicht-staatlicher, extremistisch-terroristischer Gruppierungen, um Einfluss zu projizieren, sowohl gegen Israel als auch gegen regionale Konkurrenten, wie z.B. Saudi Arabien.

Um die Loyalität dieser Gruppierungen sicher zu stellen, unterstützt das iranische Regime diese mit Waffen, Geld und Ausbildungsmaßnahmen. Da es nun Israel gelungen ist, sowohl Haniyeh als auch Nasrallah zu eliminieren und die militärisch-terroristische Infrastruktur der Hamas in Gaza und der Hisbollah im Libanon empfindlich zu schwächen, stand das iranische Regime vor dem Problem, das Vertrauen seiner regionalen Ableger zu verlieren.

Hätte Teheran weiterhin nicht reagiert, hätte aus Sicht des iranischen Regimes die Gefahr bestanden, dass die Loyalität dieser Ableger geschwächt und damit die Möglichkeit des iranischen Regimes, durch diese Ableger regionalen Einfluss auszuüben wesentlich reduziert würde.

Der erneute direkte Angriff des Irans auf Israel ist jedoch auch mit propagandistischen Kosten verbunden. Schon beim ersten Angriff im April diesen Jahres wurde deutlich, dass die iranische Raketen- und Drohnentechnologie nicht gegen die israelische Luftverteidgung bestehen kann, insbesondere dann wenn Israel durch die USA und regionale Partner bei der Verteidigung unterstützt wird. Bei dem aktuellen Angriff setzte das iranische Regime nun ausschließlich neuere Raketentypen ein und erneut konnten diese abgewehrt werden. Damit ist nun der Nimbus des iranischen Raketenprogramms beschädigt und die Abschreckungswirkung dieser Systeme erheblich reduziert.

 

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Konflikt zwischen Iran und Israel zu einem größeren Krieg ausweitet?

Ein größerer regionaler Krieg ist nicht zwangsläufig die Folge des iranischen Angriffs auf Israel. Alle Seiten, Israel, Iran, die Hisbollah, die Hamas oder die Houthis haben die Möglichkeit, jederzeit zu deeskalieren.

Ein wesentlicher Faktor wird die Reaktion Israels auf den erneuten direkten Angriff des iranischen Regimes sein. Im April reagierte Israel mit einem einzelnen sehr gezielten Angriff auf die Luftverteidigungsanlagen einer nuklearen Anlage des Iran in der Nähe von Esfahan. Offensichtlich sollte damals mit diesem Angriff die Nachricht an Teheran übermittelt werden, dass die israelische Angriffstechnologie der iranischen Luftverteidung absolut überlegen ist.

Während hunderte von iranischen Raketen und Drohnen erfolgreich abgewehrt wurden, gelang des dem iranischen Militär nicht, einen einzelnen Luftangriff auf das eigene Land zu verhindern. Offensichtlich war diese israelische Warnung nicht ausreichend nachhaltig und wurde durch andere strategische Überlegungen des iranischen Regimes überlagert. Daher ist davon auszugehen, dass die schon durch Israel angekündigte Reaktion auf den aktuellen Angriff Irans breiter ausfallen wird.

Auch unterscheidet sich die Reaktion der US-Regierung in diesem Fall von der Reaktion im April. Während im April die Biden Administration offensichtlich darauf zielte, die israelische Reaktion auf den Angriff möglichst zu limitieren, sprach der nationale Sicherheitsberater der USA Jake Sullivan in diesem Fall von „schwerwiegenden Konsequenzen“, die auf den erneuten Angriff des Iran auf Israel folgen würden. Daher ist nun davon auszugehen, dass Israel mehrere Ziele im Iran angreifen wird, welche diese sind wird anscheinend aktuell diskutiert, im Zielspektrum stehen jedoch höchstwahrscheinlich Anlagen des iranischen Nuklearprogramms, militärische Anlage sowie die Energieinfrastruktur des Landes.

Trotz der starken verbalen Reaktion der USA sieht es im Moment noch danach aus, dass sich das amerikanische Militär nicht an dem Gegenschlag gegen den Iran beteiligen wird. Sollte jedoch der Iran, wie schon schon indirekt angekündigt, auch US Installationen und Personal in der Region als Reaktion auf den israelischen Gegenschlag ins Visier nehmen, Iran-treue schiitische Milizen im Irak haben dies schon angekündigt, dann besteht die Gefahr einer weiteren Ausweitung des Konflikts, in dem dann auch die USA involviert sein wird. In einem solchen Fall wird auch die USA für die Herstellung der Abschreckung sorgen müssen.

Wie gut sind die USA und ihre Verbündeten auf einen möglichen Großangriff des Iran vorbereitet?

Wie im April und bei aktuellen Angriff des Irans auf Israel demonstriert, sind die USA und Israel erstaunlich effektiv in der Lage, iranische Luftangriffe abzuwehren. Ein Risiko bleiben natürlich iranisch motivierte und organisierte Terroranschläge innerhalb und außerhalb der Region. Sowohl der Iran als auch die Hisbollah haben eine Geschichte terroristischer Anschläge im Ausland.

Diese, wie z.B. der Anschlag auf israelische Touristen in Burgas, Bulgarien 2012 wurden solche terroristische Operationen immer in Kooperation zwischen den iranischen Revolutionsgraden und Hisbollah Angehörigen vorbereitet und durchgeführt. Daher sind neben israelischen und jüdischen Einrichtungen aus US Einrichtungen aktuell noch stärker gefährdet, als sie dies ohnehin schon sind.

Weiterhin ist bei Stichwort „iranischer Großangriff“ zu bedenken, dass der Iran im konventionellen Sinne kaum mehr Steigerungsmöglichkeiten in Bezug auf Israel hat. Israel kämpft schon mit der Hamas im Gazastreifen, mit den Houthis im Yemen und der Hisbollah im Libanon. Das iranische Regime hat beim aktuellen Angriff auf Israel in der Mehrzahl ballistische Raketen eingesetzt, eine bessere Technologie hat der Iran nicht.

Daher kann zwar der Iran einen Raketenangriff auf Israel zwar nochmals wiederholen, das Ergebnis wird aber höchstwahrscheinlich das gleiche sein. Die iranische Angriffstechnik ist der israelisch-amerikanischer Luftabwehr technisch deutlich unterlegen. Trotz der signifikanten technischen Weiterentwicklung des iranischen Nuklearprogramms verfügt der Iran aktuell nicht über atomare Sprengköpfe und ist auch kurzfristig nicht in der Lage solche zu entwickeln. Daher wird zum jetzigen Zeitpunkt der Konflikt auf konventioneller militärischer Ebene verbleiben mit dem steigenden Risiko terroristischer Anschläge sowohl in der Region als auch international.

Könnte dieser Konflikt eine direkte Bedrohung für Europa darstellen und wenn ja, inwiefern?

Der seit dem 7. Oktober 2023 im Nahen Osten ausgebrochene Konflikt beeinflusst seither negativ die Sicherheitslage in Deutschland und Europa. Wie bei zahlreichen pro-Hamas Demonstrationen in Deutschland und Europa deutlich wurde, gibt es hier zahlreiche Unterstützer und Sympathisanten der Terrorgruppe.

Ähnliches gilt für die Hezbollah. Die bis 2020 stattgefunden Quds-Tag Demonstrationen in Berlin haben immer wieder deutlich gemacht, dass auch die libanesische Terrororganisation hier in Deutschland auf Unterstützernetzwerke zurückgreifen kann. Diese Situation wird dadurch verschärft, dass sich Teile der gewaltorientierten linksextremistischen Szene mit dem extremistisch Islamistischen pro-Hamas Milieu solidarisiert haben.

Auch haben wie erwartet die Propagandakanäle von al-Qaida und dem Islamischen Staat (IS) nach jahrelangem Desinteresse am Schicksal der Palästinenser den Konflikt als Motivierungselement entdeckt und versuchen die Ereignisse im Nahen Osten zu nutzen, um Sympathisanten zu Anschlägen zu motivieren.

Daher ist davon auszugehen, dass eine weitere Eskalation des Konflikts diese Effekte noch verstärken wird. Schon am Abend des iranischen Angriffs aus Israel gab es bei Demonstrationen in Berlin Freudenbekundungen. Für das kommende Wochenende sind zahlreiche weitere Demonstrationen in Berlin und Deutschland angemeldet.

Hier besteht die Gefahr, dass es gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen kann. Leider ist auch zu erwarten, dass die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland und Europa weiter erhöhen wird. Schon jetzt ist die Zahl solcher Vorfälle und Übergriffe nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa auf einem Rekordniveau. Die Bundesregierung teilte in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage Mitte August mit, dass allein im 2. Quartal 2024 715 antisemitische Straftaten gemeldet wurden. Daher bedeutet eine Verschärfung des Konflikts auch eine Verschärfung der Sicherheitslage in Deutschland.

 

Welche Rolle spielt die Hisbollah in diesem Konflikt und wie könnte ihre Beteiligung die Situation beeinflussen?

Aktuell ist der militärisch-terroristische Apparat der Hisbollah im Libanon entscheidend geschwächt. Nicht nur ist die Kommunikationsinfrastruktur der Terrororganisation geschwächt und die militärische Führung bis auf die mittlere Kommandoebene ausgedünnt, Israel hat in den letzten Wochen auch eine große Anzahl von Waffen- und Munitionslagern sowie Raketen und Drohnenabschussvorrichtungen der Hisbollah im Libanon zerstört.

Daher kann die Hisbollah zwar durch Guerillaangriffe auf israelische Militäreinheiten im Libanon Schaden anrichten, kurzfristig ist die Terrororganisation jedoch nicht in der Lage einen großangelegten Angriff auf Israel zu verüben. Natürlich ist davon auszugehen, dass die Hisbollah kurzfristig seine stetigen Angriffe auf Israel fortsetzen wird. Daher bleiben der Norden Israels und die Golanhöhen weiterhin akut gefährdet.

Sollte Israel im größeren Stil Bodentruppen im Libanon einsetzen, wird es mittelfristig für das israelische Militär schwer werden, diese Operationen rühmlich zu begrenzen.

Der Süden des Libanons ist eingegliedert in die Hisbollah-Infrastruktur, welche sich bis Beirut erstreckt. Sollten die israelischen Streitkräfte nicht nur einen Rückzug der Hisbollah-Kräfte nach Norden hinter den Litani-Fluss zum Ziel haben, sondern eine nachhaltige Schwächung der terroristisch-militärischen Infrastruktur der Hisbollah verfolgen, dann wird es nicht möglich sein, sich ausschließlich auf den Süden des Landes zu konzentrieren.

Jede Ausweitung der israelischen Militäroperationen macht eine effektive Exitstrategie jedoch komplexer und wird zu höheren Verlusten auf israelischer Seite führen. Wie aktuell auch die Hamas im Gazastreifen wird die Hisbollah in diesem Fall sehr wahrscheinlich auf eine Ermüdungsstrategie setzen, d.h. die Terrorgruppe wird versuchen einerseits durch Angriffe und Entführungen regelmäßige Verluste israelischer Soldatinnen und Soldaten zu verursachen und andererseits durch ihre Propaganda den internationalen Druck auf Israel zu erhöhen, sich aus dem Libanon wieder zurückzuziehen.

Welche Maßnahmen werden ergriffen, um die Zivilbevölkerung in Israel zu schützen und welche Auswirkungen hat der Konflikt auf das tägliche Leben der Menschen dort?

Seit dem pogromartigen Terrorangriff der Hamas aus den Süden Israel am 7. Oktober und dem Beginn der Hisbollah-Angriffe aus Israel am 8. Oktober 2023 befindet sich Israel in einer Krisensituation. Das israelische Militär hat nur rund 170.000 Berufssoldatinnen und Soldaten. Die übrigen Kräfte sind Reservisten, die zwar regelmäßigen Militärdienst leisten, jedoch eigentlich in der israelischen Wirtschaft arbeiten.

Daher bedeutet jede größere Militäroperation Israels sofort auch deutliche Einbußen in der Wirtschaftsleistung des Landes. Hinzu kommt, dass seit Oktober 2023 die in der Nähe des Gazastreifens gelegenen Ortschaften sowie weite Teile des Nordens von Israel evakuiert wurden. Auch die hat negative wirtschaftliche Effekte und erzeugt politischen und sozialen Druck auf die israelische Gesellschaft.

Daher hat, nachdem die terroristische Infrastruktur der Hamas im Gaza weitgehend physisch zerstört ist und daher die Größe der israelischen Militäroperationen Gazastreifen reduziert werden konnten, Mitte September die israelische Regierung die Wiederherstellung der Sicherheit im Norden des Landes zu einem maßgeblichen Kriegsziel erklärt. Damit war klar, dass ein Angriff auf die Hisbollah unvermeidlich war, da die Terrororganisation zahlreiche durch die USA und Frankreich vorgelegten Verhandlungsvorschläge in den letzten zehn Monaten immer wieder ausgeschlagen hat.

Was den Schutz der israelischen Zivilbevölkerung angeht, verfügt das Land über einen sehr effektiven Zivilschutz mit einem sehr dichten Netzwerk and Schutzräumen und Nothilfeeinrichtungen. Dies ist eine Reaktion auf die seit der Gründung des Staates Israels 1948 regelmäßigen ernsthaften Sicherheitskrisen, mit welchem das Land und die Bevölkerung umgehen müssen. Die Effektivität des israelischen Zivilschutzes wurde erneut beim aktuellen Raketenangriff des Iran demonstriert. Trotz tausender, zum erheblich großer, herabfallender Raketenteile wurde nach aktuellen Medienberichten nur eine Person getötet.