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Ungarn und Polen fallen bei Rechtsstaats-«TÜV» durch

Polens Premierminister Mateusz Morawiecki begrüßt seinen ungarischen Amtskollegen Viktor Orban. Eine Mehrheit der EU-Staaten hat ungeachtet von Drohungen aus Ungarn und Polen ein Verfahren zur Bestrafung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Union auf den Weg gebracht.
Polens Premierminister Mateusz Morawiecki begrüßt seinen ungarischen Amtskollegen Viktor Orban. Eine Mehrheit der EU-Staaten hat ungeachtet von Drohungen aus Ungarn und Polen ein Verfahren zur Bestrafung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Union auf den Weg gebracht.

Gestritten wird in der EU schon lange über die Unabhängigkeit der Justiz oder die Freiheit der Medien. Sorgenkinder sind seit Jahren vor allem Ungarn und Polen. Bald schon könnte der Streit eskalieren.

Brüssel (dpa) - Der Streit um Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit in der EU spitzt sich dramatisch zu. Die EU-Kommission stellte Staaten wie Ungarn und Polen am Mittwoch in einem Rechtsstaats-«TÜV» ein vernichtendes Zeugnis aus.

Fast zeitgleich machte eine Mehrheit von EU-Staaten ungeachtet von Drohungen aus Warschau und Budapest den Weg für ein Verfahren zur Bestrafung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit frei. In den anstehenden Verhandlungen mit dem Europaparlament könnte dieser Mechanismus sogar noch verschärft werden.

Brisant sind die Ereignisse vor allem deswegen, weil Ungarn und Polen mit einer Blockade von wichtigen EU-Entscheidungen zum langfristigen Gemeinschaftshaushalt drohen, sollte der neue Rechtsstaatsmechanismus eingeführt werden. Dies könnte zum Beispiel dazu führen, dass das geplante Corona-Konjunkturprogramm nicht starten kann.

Der deutsche EU-Botschafter Michael Clauß sprach von einer «zugespitzten Auseinandersetzung» und warnte vor einer Blockade bei den Haushaltsverhandlungen. «Bereits jetzt sind Verzögerungen mit entsprechenden Konsequenzen für die wirtschaftliche Erholung Europas höchstwahrscheinlich kaum mehr vermeidbar.»

Wie der Konflikt gelöst werden könnte, ist vollkommen offen. «Ich kann mir gut vorstellen, dass die EU an dieser Frage auch zerbrechen kann und dass es die EU, so wie wir sie kennen, in zehn Jahren nicht mehr gibt», kommentierte der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier. Als wahrscheinlich gilt, dass die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten bei einem ihrer nächsten Gipfel über den Konflikt beraten müssen.

Das nun auf den Weg gebrachte Strafinstrument sieht unter anderem vor, Kürzungen von EU-Finanzhilfen zu ermöglichen, wenn Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit «in hinreichend direkter Weise» Einfluss auf die Haushaltsführung und die finanziellen Interessen der Union haben. Die EU-Kommission hat eigentlich ein deutliches schärferes Instrument vorgeschlagen, das die Verhängung von Finanzsanktionen deutlich einfacher gemacht hätte.

Eine Entscheidungsgrundlage für mögliche Sanktionen sollen unter anderem die jetzt vorgelegten Rechtsstaatsberichte der EU-Kommission sein. Dabei hat die Brüsseler Behörde erstmals systematisch den Zustand etwa von Gewaltenteilung, Medienvielfalt und Unabhängigkeit der Justiz in den EU-Ländern untersucht - und zum Teil eklatante Mängel festgestellt.

Bei Ungarn kritisierte die Kommission unter anderem eine mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, eine systematische Behinderung und Einschüchterung unabhängiger Medien sowie Mängel bei der Korruptionsbekämpfung. Zu Polen hieß es, mehrere «ernsthafte Bedenken» an der Unabhängigkeit von Richtern hätten weiter Bestand. Der Einfluss von Regierung und Parlament auf die Gerichte sei gewachsen.

Wie vergiftet die Atmosphäre zwischen Kritikern und Kritisierten ist, hatte sich bereits kurz vor der Veröffentlichung der Berichte gezeigt, als Kommissionsvize Vera Jourova dem rechtsnationalen Ministerpräsidenten Viktor Orban vorwarf, «eine kranke Demokratie» aufzubauen. Orban reagierte darauf mit einem wütenden Brief an Kommissionschefin Ursula von der Leyen und verlangte die unverzügliche Entfernung Jourovas aus ihrem Amt. Mit ihren Äußerungen habe sie «Ungarn und die ungarischen Menschen beleidigt», so Orban.

Auch die ungarischen Regierungsmedien schossen sich auf Jourova ein. Das Portal «origo.hu» nannte die tschechische Politikerin eine «Marionette» des liberalen US-Investors und Demokratieförderers George Soros. In ihrer Zeit als EU-Kommissarin von 2014 bis 2019 habe sie «mindestens 18 Mal» Vertreter des von Soros gegründeten Open Society Instituts (OSI) oder anderer mit Soros verbundener «Pseudo-Zivilorganisationen» getroffen.

Die Regierung in Warschau reagierte mit Polemik. Es gebe eine neue Folge der Serie «Brüssel grillt die EU», schrieb Vize-Justizminister Sebastian Kaleta auf Facebook. «Die EU-Kommission hat einen Bericht vorlegt, nach dem Polen schon fast eine Diktatur ist.» Gemeinsam mit älteren EU-Mitgliedstaaten behandele die Kommission Polen «ungeniert wie eine Kolonie». Die Deutschen würden einen Bericht diktieren, der es entgegen den EU-Verträgen ermögliche, Länder anzuschwärzen, die mit Deutschland und Brüssel nicht einer Meinung seien.

Jourova selbst bemühte sich am Mittwoch, weder Ungarn noch andere EU-Staaten direkt vor den Kopf zu stoßen. «Wir behandeln alle Mitgliedstaaten gleich», sagte sie. Grundlage des Berichts sei eine objektive und transparente Methodik. Die Berichte sollten zum Dialog beitragen und präventiv wirken. Auf Orbans Brief werde zu gegebener Zeit geantwortet. Ansonsten: kein Kommentar.

Apropos andere Staaten: Auch Deutschland kam nicht ungeschoren durch den Rechtsstaats-«TÜV». Pressefreiheit, Korruptionsbekämpfung und Justiz seien zwar insgesamt in einem guten Zustand, heißt es im Bericht. Doch Effizienz und Qualität der Justiz ließen sich vor allem durch den Ausbau der Digitalisierung noch verbessern. Besorgniserregend seien zudem zunehmende Angriffe auf Journalisten.