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Exklusives Interview: Verlassen Sie die Linke, Frau Wagenknecht?

Sahra Wagenknecht hat große Pläne für “Aufstehen” – sieht sich dabei aber nicht zwangsläufig in der ersten Reihe (Bild: Getty Images)
Sahra Wagenknecht hat große Pläne für “Aufstehen” – sieht sich dabei aber nicht zwangsläufig in der ersten Reihe (Bild: Getty Images)

Vergangene Woche ist der offizielle Startschuss für die parteiübergreifende Bewegung “Aufstehen” gefallen. Der anfängliche Zuspruch war groß, ebenso die Kritik aus allen möglichen Richtungen, insbesondere des heimatlichen linken Spektrums. An wen sich “Aufstehen” richtet und was die Sammlungsbewegung erreichen will, erklärt Mitbegründerin Sahra Wagenknecht im ersten Teil ihres Exklusiv-Interviews mit Yahoo Nachrichten.

Frau Wagenknecht, können Sie sich noch erinnern, wie Ihnen die Idee für “Aufstehen” kam?

Sahra Wagenknecht: Das war direkt nach der Entscheidung, dass es wieder eine Große Koalition gibt. Ich dachte, das kann nicht wahr sein: Die großen Wahlverlierer machen einfach weiter. Damals hörte ich auf Bürgerveranstaltungen immer wieder: “Bei der nächsten Wahl geh ich nicht mehr hin”. Ich merkte, dass parlamentarische Oppositionsarbeit nicht mehr ausreicht, dass immer mehr Menschen sich von der Politik abwenden. Also musste etwas Neues entstehen.

Politik löst bei Jüngeren keine Begeisterungsstürme aus. Wie wollen Sie die begeistern?

Wagenknecht: Gerade die Jungen sind betroffen, es wird ja ihre Zukunft verspielt. Unser Land ist nicht nur sozial gespalten, sondern alle wichtigen Probleme werden verschleppt. Die Regierung hat keine Vision. Die digitale Revolution überlassen wir profitgetriebenen Internetgiganten aus den Vereinigten Staaten, das Bildungssystem in Deutschland ist chronisch unterfinanziert.

Okay, aber kommen wir zurück zur Begeisterungsfähigkeit…

Wagenknecht: “Aufstehen” hat keine starren Parteienstrukturen. Wir sind transparent und durchlässig. Mit Hilfe der Software Pol.is werden wir spannende Fragen diskutieren und jeder kann sich einbringen. In Parteien muss man sich erst über Jahre nach oben arbeiten, bis man endlich etwas mitentscheiden kann. Bei uns geht das sofort.

Wenn also “Aufstehen” begänne, Parteistrukturen aufzubauen – wäre das gleichzeitig das Todesurteil?

Wagenknecht: Dann würden sich wahrscheinlich viele wieder verabschieden. Wir hören zu und schaffen eine einfache Basis für Engagement. Auch für Aktionen vor Ort.

Zuhören ist nicht gleich Demokratie. Zuhören kann auch aus Gnade heraus geschehen.

Wagenknecht: Jedes Mitglied kann sich einbringen und vielleicht sogar zu einem Kopf der Bewegung werden – das ist eine durchlässige Struktur. Wer bei Pol.is einen kreativen Vorschlag macht, kann sehr viel Zustimmung gewinnen.

Und wer entscheidet, was eine intelligente Idee ist?

Wagenknecht: Die, die sich an der Debatte beteiligen. Die Software ist so programmiert, dass eingestellte Forderungen von den Teilnehmern abgestimmt werden. Also die Zustimmungen bringen etwas nach oben.

Da ist alles noch im virtuellen Raum. Wie wollen Sie auf die Straße?

Wagenknecht: Wir haben die erste Aktion gestartet und Abrisszettel mit politischen Forderungen an Pinnwände geheftet. Aber das war erst mal nur zum aufwärmen, kreativere Aktionsformen werden folgen.

Bei allen europäischen Bewegungen, die damit Erfolg hatten, wie Podemos in Spanien, En Marche in Frankreich, Labour in Großbritannien, gab es einen magischen Moment, eine Welle mit der Gewissheit: Das verebbt so schnell nicht. Wie soll das in Deutschland geschehen?

Wagenknecht: Wir haben binnen vier Wochen über hunderttausend Menschen gewonnen – das zeigt doch ein großes Potenzial. In Deutschland sind ganz viele nicht damit einverstanden, wie sich das Land entwickelt. Viele halten es für falsch, dass mit Krankenhäusern Profit gemacht wird, dass Investoren ganze Straßenzüge aufkaufen, sich alles nur noch rechnen muss. Wir brauchen noch andere Werte als die ökonomischen.

Aber all diese Bewegungen strebten Wahlen an. Das ist bei Ihnen anders.

Wagenknecht: Das deutsche Wahlsystem schreibt vor, dass nur Parteien bei Wahlen antreten können.

Würden Sie das gern ändern?

Wagenknecht: Wir versuchen erstmal, die Parteien zu verändern. Die bundesdeutsche Geschichte zeigt, dass Bewegungen ihre Ziele in den Parteien verankern können, wenn sie genug Druck entfalten. Es gab eine starke Friedensbewegung, eine starke Umweltbewegung – und deren Themen fanden Eingang in die Parteien. Meine Hoffnung ist, dass unsere Bewegung so stark wird, dass die Parteien gar nicht anders können, als unsere Forderung nach mehr sozialem Ausgleich aufzugreifen.

Überlegen Sie, die Partei der Linken zu verlassen und ganz von “Aufstehen” aus zu arbeiten?

Wagenknecht: Nein. Meine Arbeit als Fraktionschefin der Linken steht nicht im Widerspruch zu “Aufstehen”. Ich muss doch anerkennen: Allein wird es die Partei Die Linke nicht schaffen, einen Politikwechsel herbeizuführen. Ich habe mir schon lange gewünscht, dass eine Bewegung für höhere Löhne und mehr soziale Sicherheit entsteht, und mich gefragt, warum sich die Menschen so viel gefallen lassen. Ich muss auch nicht ewig einer der Köpfe von “Aufstehen” bleiben. Ich würde mich freuen, wenn das irgendwann andere fähige Leute übernehmen – wenn neue Talente entdeckt werden. Das Auswahlverfahren bei den Parteien ist offenkundig nicht optimal. Talentierte und kreative Köpfe schaffen es selten nach oben.

Das klingt bei einer Berufspolitikerin nach Selbstkritik.

Wagenknecht: Viele verbiegen sich, um in einer Partei Karriere zu machen. Das ist nicht, was wir brauchen.

Haben Sie sich auch verbogen?

Wagenknecht: Ich hatte das Glück, meine politische Arbeit in einem gesellschaftlichen Umbruch zu beginnen, kurz nach der Wende 1990, da waren die Strukturen relativ durchlässig. Später konnte ich mich auf meine öffentliche Resonanz stützen. Das hat meine mangelnde Fähigkeit zum Netzwerken ausgeglichen.

Netzwerken würden Sie nicht zu Ihren Fähigkeiten zählen?

Wagenknecht: Naja, es ist zumindest nicht meine Stärke.

Sahra Wagenknecht bei der Vorstellung von “Aufsehen” in der Bundespressekonferenz (Bild: dpa)
Sahra Wagenknecht bei der Vorstellung von “Aufsehen” in der Bundespressekonferenz (Bild: dpa)

Warum werden Sie von nicht wenigen Politikerkollegen und auch von Journalisten als wenig integrativ beschrieben? Spielen auch Klischees eine Rolle?

Wagenknecht: Das ist ein Klischee. Man kann keine Fraktion führen, wenn man sich nicht um Integration bemüht. Und auch “Aufstehen” habe ich ja nicht allein auf die Beine gestellt. Wir haben über 80 prominente Leute – Schriftsteller, Schauspieler, Gewerkschafter, Politiker aus drei Parteien, Wissenschaftler – davon überzeugt, dass das ein sinnvolles Projekt ist. Dafür sollte man schon ein bisschen integrativ sein.

Und was ist, wenn doch nicht so viele Leute unzufrieden wären? Davon gehen Sie ja aus.

Wagenknecht: Die Unzufriedenheit mit der Politik zeigen alle Umfragen. Viele wehren sich nur deshalb nicht, weil sie die Hoffnung auf Veränderung aufgegeben haben. Schauen Sie sich die Daten der Wirtschaftsforschung an: Trotz jahrelangen Wirtschaftsaufschwungs hat fast die Hälfte der Bevölkerung heute nicht mehr, sondern eher weniger Geld in der Tasche als vor 20 Jahren. Sie nehmen nicht am Aufschwung teil.

Sind die Unterschiede im Vergleich zu vor 20 Jahren denn so groß? Gut verdient haben einige schon damals, vielleicht ist das Jammern auf hohem Niveau?

Wagenknecht: Es gibt in Deutschland einen großen Niedriglohnsektor – viele ackern den ganzen Monat und bringen am Ende weniger als 1200 Euro netto nachhause. Damit kann man keine Familie gründen, nicht die Mieten in den großen Städten bezahlen. Und hinzu kommen die vielen befristeten Jobs, das Leben ist sehr unsicher geworden, besonders für die Jungen. Viele engagieren sich übrigens nicht politisch, weil sie völlig ausgelastet damit sind, im Alltag zu bestehen und Monat für Monat ihre soziale Existenz zu sichern. Dabei könnten wir Arbeit ganz anders organisieren, entspannter leben.

Malen Sie die Situation im Land nicht zu schwarz?

Wagenknecht: Deutschland ist tief gespalten. Das Land ist reich, wir sind nicht Griechenland und erst recht nicht Bangladesch – hier ist viel verteilbar. Aber die Verteilung ist extrem ungerecht. Viele junge Leute erreichen nicht mehr den Lebensstandard ihrer Eltern, obwohl sie teilweise sogar härter arbeiten.

Der Staatshaushalt hat doch einen Riesenposten für Soziales, da wird viel verteilt.

Wagenknecht: Aber für viel Falsches. Zehn Milliarden Euro werden zum Beispiel jährlich gebraucht, um so genannte Hartz-IV-Aufstockerleistungen zu bezahlen. Das kriegen Menschen, die sehr wenig verdienen, vom Staat. Dabei wäre es doch besser, die Mindestlöhne zu erhöhen und die Unternehmen die Gehälter zahlen zu lassen, oder?

Das sind alles wichtige Punkte. Im Gründungsaufruf zu “Aufstehen” indes ist von “empfundener Ohnmacht” die Rede, und davon, dass der Sozialstaat keine Sicherheit mehr gebe: Wird dadurch nicht Unsicherheit auch geschürt, wird dadurch Angst fabriziert?

Wagenknecht: Man macht sich etwas vor, wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass viele Leute Angst haben. Wenn jemand zum Beispiel einen guten Job hat, einen guten Lebensstandard – spätestens nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ist alles weg, egal wie lange man gearbeitet hat. Danach muss man sich nackt machen, um Hartz IV zu bekommen. Das ist unmöglich. Natürlich macht das Angst.

Wie Sahra Wagenknecht der AfD Stimmen abjagen will und warum sie vor einem neuen Chemnitz warnt, lesen Sie im zweiten Teil des Interviews.