Experte zum Zug-Chaos in Deutschland - Pünktlichkeit adé: Darum kommen Züge immer später

Bahn-Experte Christian Böttger nennt Ursachen und Lösungen für die vielfältigen Probleme bei der deutschen Bahn<span class="copyright">Getty Images/ brunocoelhopt/ stayorgo/ thamerpic/ hanohiki, Böttger</span>
Bahn-Experte Christian Böttger nennt Ursachen und Lösungen für die vielfältigen Probleme bei der deutschen BahnGetty Images/ brunocoelhopt/ stayorgo/ thamerpic/ hanohiki, Böttger

Die Pünktlichkeit der Züge sinkt, Ausfälle häufen sich – die deutsche Bahn steckt in der Krise. Woran liegt das? Bahn-Experte Christian Böttger analysiert die Ursachen und zeigt mögliche Lösungen auf.

Warum die Bahn in der Krise steckt

Die Pünktlichkeit und die Stabilität des Bahnbetriebs in Deutschland sinken seit Jahren, die Zahl ausfallender Züge steigt. Hierfür werden in der Fachwelt unterschiedliche Gründe genannt, wobei kaum strittig ist, dass sich die Wirkung unterschiedlicher Probleme auch noch hochschaukeln und verstärken.

Veraltete Infrastruktur als Hauptproblem

Die Infrastruktur der DB AG altert. Dabei ist der im dem jährlichen Infrastrukturzustandsbericht seit 2008 ausgewiesene Altersprozess für Gleise und Weichen zwar erkennbar, aber nicht dramatisch. Lediglich das Alter der Brücken ist deutlich gestiegen, allerdings wurden hierbei die Messverfahren massiv verändert.

Seit Anfang 2023 hat die DB AG die marode Infrastruktur als Hauptproblem der Krise benannt und 45 Mrd. Euro für ein Sanierungsprogramm gefordert. Verkehrsminister Wissing hat sich diese Sicht zu eigen gemacht. Er sieht die Generalsanierung von 40 Hauptstrecken als zentrales Projekt zur Sanierung des Unternehmens

Überlastung des Streckennetzes

Das Streckennetz der DB AG hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert, einige Nebenstrecken wurden stillgelegt, nur zwei größere Neubaustrecken sind neu in Betrieb gegangen. Die Verkehrsleistung auf dem Netz ist in den letzten 20 Jahren um etwa 11 Prozent angestiegen.

Hinter diesem undramatisch wirkenden Wert verbirgt sich allerdings zugleich eine Strukturverschiebung in der Netznutzung: Der Regionalverkehr wächst als Folge der anhaltenden Land-Stadt-Wanderung vor allem in den Metropolen. Den Bundesländern stand in den letzten Jahren relativ viel Geld für den Regionalverkehr zur Verfügung. Ihre Bestellorganisationen, die „Aufgabenträger“, haben zusätzliche Verkehre vor allem im Zulauf zu den Großstädten bestellt.

Auch im Fernverkehr wächst vor allem der Verkehr zwischen den Metropolen, die DB AG hat die entsprechenden Angebote verdichtet. Am deutlichsten ist der Strukturwandel im Güterverkehr. Traditionelle Verkehre, insbesondere im Kohle- und Montanbereich, sind in den letzten Jahren massiv zurückgegangen, viele Produkte werden miniaturisiert oder durch digitale Lösungen ersetzt.

Entsprechend sinkt die Trassennachfrage in der Fläche. Diese Verluste konnte der Güterverkehr ausgleichen durch den „Kombinierten Verkehr“, also den Transport von Containern und LKW. Diese Leistungen erfolgen weitgehend auf den Hauptachsen, die auch im Personenverkehr stark belastet sind.

Problematische Bahnhöfe: Überlastung und Platzmangel

Die steigende Nachfrage in den Knoten führt auch zu Überlastungen in bestimmten Bahnhöfen, die Zuwege und Bahnsteige reichen nicht aus, um alle Fahrgäste aufzunehmen. Beispielsweise muss der Hamburger Hauptbahnhof wegen Überfüllung regelmäßig gesperrt werden. Ein weiteres Problem ist der Trend, mit Fahrrädern und immer größerem Gepäck zu reisen. Diese nehmen besonders viel Platz ein und verlangsamen den Prozess des Ein- und Aussteigens.

Fehlender Netzausbau verschärft die Situation

Die naheliegende Lösung zur Bewältigung der zunehmenden Nachfrage nach Trassen und die veränderte Trassennachfragestruktur wäre der Ausbau der Infrastruktur. Vor 20 Jahren hat der Bund noch 4 Mrd. Euro jährlich für den Neubau von Bahnstrecken investiert, dann wurden die Mittel auf 1,5 Mrd. Euro reduziert und sind seither auf diesem Niveau verblieben, seit etwa 5 Jahren wurden die Mittel auf gut 2 Mrd. Euro erhöht.

Entsprechend hat sich eine dramatisch lange Liste offenerer Projekte aufgebaut, die Liste „vordinglicher Projekte“ im Bundesverkehrswegeplan hat inzwischen ein Volumen von 90 Mrd. Euro, hinzu kommen noch Projekte für den „Deutschlandtakt“. Die Kapazität der Planungs- und Bauindustrie hat sich dem Invest-Volumen der letzten Jahre angepasst, zusätzliches Geld kann deshalb kurz- und mittelfristig kaum verbaut werden.

Baustellen: Eine Belastung für den Fahrgast

Seit etwa 2020 hat der Bund die Mittel erhöht, die er der DB AG zur Erneuerung der Infrastruktur bereitstellt. Mit dem veränderten Narrativ von 2023 zur maroden Infrastruktur hat der Bund die Mittel nochmals signifikant erhöht. Bauarbeiten gehen meist einher mit Streckensperrungen, die deutlich erhöhten Bauaktivitäten führen also zu vermehrten Einschränkungen für die Fahrgäste. 

Personalmangel verschärft die Krise

Der Mangel an Personal, besonders Fachkräften, trifft die gesamte deutsche Wirtschaft, so auch alle Betreiber im Öffentlichen Verkehr. Inzwischen fallen Züge nicht nur aus wegen fehlender Lok- und Zugführer, sondern auch wegen fehlender Mitarbeiter in Stellwerken und Betriebszentralen, Baumaßnahmen verzögern sich wegen fehlender Abnahmeprüfer, auch die Werkstätten sind betroffen. Etwas spekulativ ist die Annahme, dass der Fachkräftemangel auch dazu führt, dass Aufgaben von weniger qualifizierten Mitarbeitern durchgeführt werden und entsprechend die Fehlerquote und steigt. Hierfür gibt es keine Belege.

Die DB AG hat das Problem lange unterschätzt. Noch Mitte 2018, als bereits zahlreiche Züge wegen fehlender Lokführer gestrichen wurden, hat der Personalvorstand des DB-Konzerns, M.Seiler, öffentlich versichert, es werde keine Zugausfälle wegen Personalmangels geben.

Technische Überregulierung als Hemmnis

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Eisenbahn in Deutschland strengeren technischen und betrieblichen Regeln unterliegt als die Straße oder die Eisenbahn in benachbarten Ländern. In den letzten Jahren sind immer weitere Regeln dazugekommen. Viele dieser Regeln sind, einzeln betrachtet, nicht besonders bedeutend, in der Menge jedoch machen sie den Bahnbetrieb teurer und störungsanfälliger.

Zwei Beispiele zur Verdeutlichung: Bei Bauarbeiten werden heute aus Sicherheitsgründen oft beide Gleise gesperrt. Früher – und bis heute in Nachbarländern wie der Schweiz – wird in ähnlicher Konstellation ein Gleis für den Betrieb offengehalten. Ein anderes Beispiel ist das vor einigen Jahren erlassene Verbot, bei der Instandhaltung von Oberleitungen mechanische Gleisleitern einzusetzen.

Seither muss ein Zweiwege-Fahrzeug mit Hubbühne auf dem Gleis anfahren. Dafür muss die Strecke länger gesperrt werden, die Produktivität der Mitarbeiter sinkt, die Ausrüstung wird teurer und man braucht zusätzliche Lokführer. Mit einem kritischen Review und gegebenenfalls der Abschaffung überstrenger Regeln könnte die Eisenbahn finanziell und betrieblich deutlich entlastet werden.

Bisher ist nicht erkennbar, dass die relevanten Stakeholder dieses Thema angehen wollen. Vermutlich ist die Sorge vor der Verantwortung bei Unfällen zu groß.

Managementfehler und ihre Folgen

Eine viel diskutierte Frage ist, ob und inwieweit Managementfehler bei der DB-Infrastruktursparten zu der Krise beitragen. Dabei ist es für Außenstehende nicht leicht, zwischen anekdotischen Einzelfällen und tatsächlichen Strukturproblemen zu unterscheiden. In der Branche zirkulieren zahlreiche Berichte über nicht funktionierende Prozesse, zum Beispiel bei Ersatzteilen und in der IT, vor allem aber über einen übergroßen Wasserkopf, in dem Entscheidungen und Verantwortlichkeiten nicht mehr klar geregelt sind.

Im August 2024 wurden Auszüge einer Analyse der DB InfraGo bekannt, wonach das Unternehmen in zwei Drittel der Fälle nicht in der Lage sei, die Betreiber fristgerecht über Bauarbeiten zu informieren, entsprechend könnten diese auch die Kunden nicht informieren. Die entsprechenden Mitarbeiter seien „am Limit“, Ursache seien mangelhafte IT-Systeme. Zudem kündigte das Unternehmen an, bis Ende 2025 Strecken sperren zu müssen, da Stellerker fehlten. Die Bundesnetzagentur hat „schwere Managenetfehler“ als Ursache benannt.

Fahrzeugzuverlässigkeit

Laut DB-eigener Statistik sind auch Fahrzeugdefekte für einen erheblichen Teil der Verspätungen verantwortlich. Die dahinter liegenden Gründe sind wohl auch hier Personalmangel in den Werkstätten und evtl. Managementfehler.

Eingriffe von Dritten

Der Bahnbetrieb in Deutschland leidet unter erheblichen Eingriffen von Dritten. Zum einen wird der Betrieb immer wieder gestört von vorsätzlichen Attacken und Kabeldiebstählen. Darüber hinaus gibt es Deutschland mehr Vandalismus als in anderen Ländern. Es gibt auch Verspätungsfälle, die verursacht werden durch Fahrgäste, die Türen blockieren, um auf dem Bahnsteig zu rauchen oder um auf Lieferung des Pizzalieferdienstes zu warten.

Zustand und Alter der Infrastruktur

Der Bund stellt seit 2023 erhebliche zusätzliche Mittel zur Verfügung, um die aufgelaufenen Rückstände bei der Erneuerung aufzuholen. Dabei ist die „Generalsanierung“ von 40 Hauptstrecken das zentrale Projekt. Allerdings ist das Sanierungsprogramm für die Folgejahre nicht finanziert. Zudem zweifeln viele Experten daran, dass die Generalsanierung allein den Betrieb in dem erhofften Umfang stabilisieren wird. Wichtig wäre künftig eine planbare und stetige Finanzierung der Sanierungsmaßnahmen.

 

Was getan werden kann

Überlastung des Streckennetzes

In den kommenden Jahren werden in Deutschland keine relevanten neuen Bahnstrecken in Betrieb gehen, die Planung muss deshalb von der bestehenden Infrastruktur ausgehen. Wenn die Hypothese zutrifft, dass die Überlastung ein wichtiger Grund für die abnehmende Netzstabilität ist, stehen nur unerfreuliche Optionen zur Verfügung, um den Betrieb zu stabilisieren.

Insbesondere sind das eine Reduktion der Zugzahlen. Dies betrifft insbesondere die überlasteten Knoten. Eine andere Idee besteht darin, die Geschwindigkeit im Netz zu harmonisieren, das bedeutet, die ICE langsamer fahren zu lassen. Die Wirkung dieser Maßnahme ist allerdings umstritten. Weiterhin wäre es denkbar, die Fahrradmitnahme zu regeln oder zu begrenzen und die Bahnsteige in den Knotenbahnhöfen für mehr Fahrgäste zu ertüchtigen.

Unterlassener Netzausbau

Für den Ausbau des Netzes sollte künftig eine planbare und stetige Finanzierung bereitgestellt werden. Zudem sollte der Bund ein gezieltes Programm starten, um die entsprechende Menge an Fachkräften auszubilden.

Baustellen

Die Beeinträchtigungen durch Baustellen sind grundsätzlich nicht vermeidbar. Denkbar ist allerdings, dass eine Verschlankung der Regelwerke Entlastung bringen könnte. Auch bei der Information der Betreiber gibt es offensichtlich Verbesserungspotenzial.

Fachkräfte-/Personalmangel

Der Bund sollte, gemeinsam mit der Industrie, ein gezieltes Programm starten, um die erforderlichen Fachkräfte anzuwerben und auszubilden.

Technische Überregulierung

Eine gesamtheitliche Bestandsaufnahme der Regeln sollte vorgenommen werden. Nutzen und Kosten sollten bewertet werden, auch im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern und zum Ausland. In Abhängigkeit von den Ergebnissen sollte eine Verschlankung der Regelwerke erfolgen.

Managementfehler

Die Managementprozesse der Infrastrukturgesellschaft sollten zügig und kritisch überprüft werden. Zu diskutieren ist, welches Gremium einen solchen Prozess steuern könnte – die heutigen Strukturen offenbar nicht

Fazit

Die genannten Punkte tragen zu der Krise bei, dabei bestehen Wechselwirkungen und Verstärkungen. Es zeichnet sich aber ab, dass die Stabilisierung des Betriebes Eingriffe auf vielen Ebenen erfordert und Zeit in Anspruch nehmen wird. Eine effiziente Steuerung und funktionierende Management- und Entscheidungsprozesse sind die Basis, um den Betrieb zu stabilisieren.