Experten-Appell auf FOCUS online - „Wir rufen zu den Waffen“: Warum sich Deutschland jetzt für Kriegsfall rüsten muss

Egal, wie die US-Wahl ausgeht: Deutschland muss sich in Zukunft selber schützen. Der frühere US-Botschafter in Deutschland James D. Bindenagel und der Politikwissenschaftler Karsten Jung mahnen Berlin zum Handeln - und machen fünf konkrete Vorschläge.

Gespannt schaut die Welt auf den 5. November 2024. An diesem Tag wird in den USA gewählt. Donald Trump oder Kamala Harris, Republikaner oder Demokraten, „Gut oder Böse“ – das tief gespaltene Amerika steht vor einer Richtungsentscheidung.

Ganz gleich, wer den Kampf ums Weiße Haus gewinnt, Experten sind sicher, dass der Wahlausgang für Deutschland und Europa eine Zeitenwende markieren wird. Denn die USA werden nicht länger der Garant sein für Frieden, Sicherheit und Freiheit in Europa. Die Zeiten der unbedingten und potenziell unbeschränkten amerikanischen Sicherheitsgarantie seien nach der US-Wahl vorbei.

„Für Deutschland und Europa heißt das nach Jahrzehnten des relativ sorglosen Lebens von der vermeintlichen ‚Friedensdividende‘, dass sie absehbar tatsächlich die Hauptverantwortung für die Verteidigung der eigenen Sicherheit und Freiheit übernehmen müssen“, sagte der frühere US-Botschafter in Deutschland, James D. Bindenagel, zu FOCUS online.

Egal, wie US-Wahl ausgeht - Deutschland muss sich für Kriegsfall wappnen

Spätestens mit dem russischen Angriff auf die Ukraine, aber auch durch den Konflikt zwischen China und Taiwan sowie andere Krisenherde, habe sich die weltpolitische Lage dramatisch verändert. „Die Neuausrichtung der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen der USA in Richtung des Pazifischen Raumes bedeutet zwangsläufig – und parteiübergreifend – eine Abkehr von Europa.“

Nicht nur in republikanischen Kreisen zirkuliere seit einiger Zeit der Vorschlag einer „dormant Nato“ , also einer Allianz, die so lange im Standby Modus operiert, bis sich Europa tatsächlich einer existenziellen Bedrohung gegenübersähe.

„Für begrenzte Konflikte wie jene auf dem Balkan oder in der Ukraine würde dies bedeuten, dass Europa sie ohne amerikanische Führung lösen müsste“, so der frühere US-Diplomat, der jetzt am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) in Bonn arbeitet.

Bindenagel und dessen Kollege Karsten Jung, Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl, kritisieren, dass Deutschland und Europa klare Ansagen aus Washington offenbar nicht ernst genug genommen haben. Immer wieder sei von dort die Aufforderung gekommen, mehr in Sicherheit zu investieren und in der Nato mehr Verantwortung zu übernehmen.

Dennoch seien Deutschland und Europa auf die neue Sicherheitslage „nicht im Ansatz vorbereitet“, konstatiert Karsten Jung gegenüber FOCUS online. Und das „nach 30 Jahren der Mahnungen aus Washington, zehn Jahre nach dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine und fast drei Jahre nach der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen Zeitenwende“.

„Zeitenwende“ ist gescheitert - doch wie geht es weiter?

So komme eine Kommission der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zu dem Schluss, dass die Zeitenwende im Wesentlichen „gescheitert“ sei, so Jung. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft gelange zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis: „Angesichts der massiven Abrüstung Deutschlands in den letzten Jahrzehnten und der aktuellen Beschaffungsgeschwindigkeit wird Deutschland bei einigen wichtigen Waffensystemen erst in etwa 100 Jahren das Rüstungsniveau von 2004 erreichen.“

Für den früheren US-Botschafter James D. Bindenagel lässt diese Entwicklung nur einen Schluss zu: „Offenkundig fehlt es noch immer an Problembewusstsein, scheuen Regierung und Opposition noch immer die mit einer notwendigen Neuausrichtung der deutschen Politik verbundenen finanziellen und vor allem politischen Kosten.“ Die Erfolge der „selbst ernannten Friedensstifter“ von AfD und BSW bei den jüngsten Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg „scheinen ihnen recht zu geben“.

Wie zerrissen Deutschland in der Verteidigungsfrage ist, zeigt sich an der geplanten Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland ab 2026. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) argumentiert, die Waffen seien zur Abschreckung gegenüber Russland nötig. Kritiker entgegnen, durch die Raketenstützpunkte könnte Deutschland zum Angriffsziel werden.

Im aktuellen ARD-DeutschlandTrend sprachen sich 40 Prozent der Befragten für die Raketenstationierung aus, 45 Prozent dagegen. Besonders Anhänger der AfD (62 Prozent) und von Sahra Wagenknechts BSW (69 Prozent) sträuben sich gegen einen solchen Schritt.

Bindenagel mahnt, was die überparteiliche US-amerikanische Commission on the National Defense Strategy für die USA konstatiert, gelte für Deutschland offenbar erst recht: „Die Öffentlichkeit ist sich der Gefahren, denen die Vereinigten Staaten ausgesetzt sind, und der finanziellen und sonstigen Kosten, die für eine angemessene Vorbereitung erforderlich sind, weitgehend nicht bewusst .

Ex-US-Botschafter Bindenagel: „Ruf zu den Waffen“ notwendig

Das von der Kommission gezogene Fazit, ein überparteilicher „Ruf zu den Waffen“ sei „dringend erforderlich“, lasse sich auf die Situation in Deutschland übertragen, so Bindenagel zu FOCUS online. Zwar stehe ein solcher „Ruf zu den Waffen“ offenkundig im Widerspruch zu der verbreiteten, „bei den jüngsten Wahlen im Osten Deutschlands sogar mehrheitsfähig gewordenen Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht“ in der Bevölkerung.

„Dennoch ist er politisch notwendig“, so Bindenagel nicht zuletzt mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

„Während die Populisten des BSW und der AfD für einen diktierten Scheinfrieden trommeln mögen, dürfen die staatspolitisch verantwortlichen Parteien der demokratischen Mitte nicht auf das leere Versprechen eines utopischen ‚Friedens‘ hereinfallen, das auf nichts mehr zielt als die Schwächung unserer Wachsamkeit und Verteidigungsbereitschaft“, so der Experte.

Eindringlich mahnt er, man müsse den Versuchen gerade von BSW und AfD widerstehen, „uns zu spalten und in falscher Sicherheit zu wiegen“. Stattdessen brauche man „eine neuerliche gesellschaftliche Kraftanstrengung, um die westliche Abschreckung aufzurichten“. Bindenagel: „Wir rufen zu den Waffen, damit wir sie nicht einsetzen müssen!“

Fünf konkrete politische Forderungen an Berlin

Auf FOCUS online formulieren Bindenagel und Jung fünf konkrete Aufgaben für die deutsche Politik:

  • Erstens: Die Unterstützung der Ukraine ist unverhandelbar.

Sie ist in unserem eigenen Interesse, denn die Ukraine verteidigt auch unsere Sicherheit und unsere Freiheit, indem sie den russischen Imperialismus und Expansionismus in die Schranken weist.

Wir müssen politisch, militärisch und vor allem rüstungswirtschaftlich in der Lage sein, die Ukraine länger und umfassender zu unterstützen, als Russland seine Kriegswirtschaft aufrechterhalten kann – gerade auch dann, wenn die USA ihre Unterstützung reduzieren.

Gerade angesichts der Versuche speziell des BSW, das Thema für seine Zwecke zu instrumentalisieren, könnte eine überparteiliche Vereinbarung der Parteien der demokratischen Mitte, die Ukraine dauerhaft mit den erforderlichen Mitteln aus Deutschland heraus zu unterstützen, der Rüstungsindustrie und der Ukraine vor der Bundestagswahl Planungssicherheit geben und das Thema im Wahlkampf de-politisieren.

  • Zweitens: Das transatlantische Bündnis bleibt auf absehbare Zeit das unverzichtbare Fundament unserer gemeinsamen Sicherheit.

Zwei Weltkriege und der Kalte Krieg haben gezeigt, dass die Sicherheit eines freien Europas in letzter Konsequenz nur mithilfe der Vereinigten Staaten zu verteidigen ist. Es liegt deshalb in unserem unbedingten Interesse, die US-Präsenz und den amerikanischen Beitrag zur Abschreckung in Europa langfristig abzusichern. Dies beinhaltet auch die geplante Stationierung der Tomahawk-Marschflugkörper als Beitrag zur europäischen Abschreckung, solange wir diese nicht selbst zu leisten imstande sind.

Sowohl in die amerikanische als auch in die eigene Öffentlichkeit hinein müssen wir die unverzichtbare Notwendigkeit der atlantischen Allianz als Fundament der liberalen Weltordnung wieder viel offensiver vertreten und gegenüber den Alternativen abgrenzen.

Egal, wer in den USA Präsident sein wird – unsere Gemeinsamkeiten bei der Gestaltung der neuen Regeln für das 21. Jahrhundert sind mit den USA auch unter einem Präsidenten Trump weit größer als mit China unter Xi oder Russland unter Putin.

„Eine Art Kontaktgruppe der führenden europäischen Mächte Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Polen, wie sie von CDU-Chef Friedrich Merz jüngst für den Ukraine-Konflikt vorgeschlagen wurde, kann bei der transatlantischen Koordination, auch zwischen Nato und EU, gerade unter einem Präsidenten Trump eine wichtige Rolle übernehmen“, sagte Jung.

Moderate Erhöhung der Mehrwertsteuer für Verteidigung

  • Drittens: Deutschland und Europa müssen mehr Eigenverantwortung übernehmen.

Zu Recht erwarten die USA für ihren fortgesetzten Beitrag zur europäischen Verteidigung ein klares, materiell unterlegtes Bekenntnis zu einer gerechteren Lastenteilung und mehr europäischer Eigenverantwortung in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dazu zählt auch der Aufbau einer starken europäischen Verteidigungsindustrie. Die 100 Milliarden Euro des Sondervermögens für die Bundeswehr reichen dafür bei weitem nicht aus. Auch aus dem laufenden Haushalt werden nicht annähernd genügend Mittel bereitgestellt werden können.

Angesichts der grundgesetzlich verankerten Schuldenbremse kommt neben einer erneut verfassungsrechtlich zu verankernden Erhöhung des Sondervermögens insbesondere eine – auch einfachgesetzlich umsetzbare – „Verteidigungssteuer“ in Betracht. Hierfür böte sich als erster Schritt etwa eine einprozentige Erhöhung der – immerhin seit dem Amtsantritt Angela Merkels 2006 nicht mehr angehobenen – Mehrwertsteuer an. Dies würde den bestehenden Handlungsbedarf zwar nicht vollständig abdecken, den Handlungsdruck im Bundeshaushalt jedoch erheblich reduzieren.

  • Viertens: Wir alle sind gefordert.

Auch die Deutschen, jeder Einzelne von uns, müssen uns mit der Perspektive auseinandersetzen, dass Sicherheit nicht umsonst zu haben ist – „freedom is not free“, wie die Amerikaner sagen. Und wir müssen die Frage beantworten, was wir für ihre Verteidigung zu leisten bereit sind.

Auch um dieses Bewusstsein zu stärken, sollte jedenfalls eine strukturierte und zielgerichtete Diskussion über die (Wieder-) Einführung einer allgemeinen Wehr- oder Dienstpflicht für die kommende Legislaturperiode auf die politische Agenda gehoben werden. Als Minimallösung müsste zugleich sichergestellt werden, dass die notwendigen administrativen, infrastrukturellen und personellen Voraussetzungen für eine Wiedereinführung bereits heute geschaffen und vorgehalten werden für den Fall, dass diese künftig notwendig werden sollte.

  • Fünftens: Deutschland muss strategiefähig werden.

Damit es nicht bei isolierten Einzelmaßnahmen bleibt, bedarf es endlich der Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates, auf den sich die Ampel-Koalition bisher nicht einigen konnte. Sinnvollerweise ergänzt würde ein solches politisches Gremium auf Kabinetts- oder Staatssekretärsebene durch einen unabhängigen Rat für Strategische Vorausschau, wie er zuletzt auch von den Grünen gefordert wurde, mit politischem Gewicht und regelmäßigen Berichtspflichten. Auf dieser Grundlage sollte auch die im vergangenen Jahr erstmals vorgelegte Nationale Sicherheitsstrategie überarbeitet und konkretisiert werden.