Überraschender Vorstoß - Experte über Ukraine-Angriff in Russland: Dahinter steckt eine große Sorge in Kiew

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Die ukrainischen Angriffe im russischen Gebiet Kursk treffen auch Ziele im tieferen Hinterland. (Archivbild)---/Administration of the Kursk region of Russia via AP/dpa

Ukrainische Truppen sind in die russische Region Kursk vorgedrungen. Das russische Gesundheitsministerium spricht von mehr als 30 Verletzten. Ein gelungener Überraschungsangriff? Viele Experten sehen das Manöver kritisch - und zweifeln an dessen Sinn.

Eine „groß angelegte Provokation“ Kiews - so nannte Russlands Präsident Wladimir Putin einen Angriff, den ukrainische Truppen am Dienstag auf das Gebiet Kursk starteten. Das Areal ist nicht etwa ukrainisches Territorium, sondern liegt in Russland.

Ein Video aus der Stadt Sudscha, das in den sozialen Netzwerken kursiert, soll das Ausmaß der Zerstörung dokumentieren. Zu sehen sind demolierte Häuser und Straßen, auf denen Trümmer liegen. Laut russischem Gesundheitsministerium gibt es mehr als 30 Verletzte, mindestens 19 Menschen wurden zur Behandlung in Krankenhäuser eingeliefert.

Kiew kommentiert Situation in Kursk nicht

„Die Region Kursk ist weiterhin mit einer schwierigen operativen Situation in den Grenzgebieten konfrontiert“, teilte der geschäftsführende Gouverneur des Gebiets Kursk, Alexej Smirnow, bei Telegram mit. Inzwischen wurde der Ausnahmezustand ausgerufen.

Russischen Angaben zufolge sollen rund 1000 ukrainische Soldaten ins Gebiet Kursk eingedrungen sein. Unabhängig überprüfen lassen sich diese und andere Angaben aber nicht.

Die Behörden in Kiew kommentierten die Lage nicht weiter. In seiner Abendansprache erwähnte Präsident Wolodymyr Selenskyj lediglich eine Beratung mit Armeeoberbefehlshaber Olexander Syrskyj. „Details folgen später“, sagte der Staatschef.

Das ist bis jetzt nicht passiert. Auch der Generalstab der Armee hat sich im täglichen Update mit einer Stellungnahme zur Kursk-Offensive zurückgehalten.

Darum ist die Region Kursk so wichtig

Trotzdem wird über den Vorstoß der Ukrainer hitzig diskutiert. Die Region Kursk spielt für Russland eine zentrale Rolle, immerhin befinden sich nur rund 70 Kilometer von der Grenze entfernt das Atomkraftwerk Kursk und das noch unfertige Kernkraftwerk Kursk 2.

Dazu kommt, dass in Sudscha die Einfüllstelle der letzten funktionierenden Gasleitung von Russland nach Europa liegt. Wie wichtig das Gebiet ist, betont auch Wolfgang Richter, Associate Fellow am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP), im Gespräch mit FOCUS online.

„In der Region Kursk sind Führungskommandos, Heeres- und Luftwaffenverbände sowie Logistikeinrichtungen zu finden. Vor allem verlaufen hier Verkehrswege, die für die Versorgung der Fronttruppen wichtig sind“, sagt er.

Außerdem gibt es Richter zufolge einen Militärflughafen, „der bereits Ende 2022 erstmals durch ukrainische Drohnen angegriffen wurde“. Allerdings, so erklärt es der Experte, liegen die meisten der genannten Punkte außerhalb der Reichweite der aktuellen ukrainischen Offensive.

Ex-General veröffentlicht Analyse zum Vorstoß

Was wollte die Ukraine mit dem Angriff bezwecken? Diese Frage stellen sich gerade viele, auch Ex-General und Militärstratege Mick Ryan. Er postete auf X (ehemals Twitter) eine Analyse zum Kursk-Vorstoß und schrieb, Überraschungen im Ukraine-Krieg seien doch „noch möglich“.

Seiner Meinung nach gibt es mehrere Ziele, die die Ukrainer mit der Attacke verfolgt haben könnten. „Auf der grundlegendsten, taktischen Ebene geht es um die Eroberung von Territorien und die Überwältigung russischer Boden- und Luftstreitkräfte“, heißt es in Ryans 23-teiligem X-Beitrag.

Die Ukrainer könnten außerdem versuchen, mit der Kursk-Offensive russische Soldaten zu binden. „Um auf den ukrainischen Angriff zu reagieren, müssen sie die Verteidigung anderswo einstellen“, schrieb er.

Diese Ziele könnten die Ukrainer verfolgt haben

Laut dem Militärexperten besteht ein strategisches Ziel der Ukrainer womöglich auch darin, die Art und Weise, wie über den Krieg berichtet wird, zu verändern. Konkret: Das russische Narrativ vom „unvermeidlichen Sieg“ zu brechen.

Sinn machen würde ein solches Vorgehen jedenfalls. Die Ukraine ist auf militärische Hilfe aus dem Westen - etwa Munition und Waffen - angewiesen, um den Krieg gegen Russland weiterführen zu können.

Es ist also im Interesse der Ukraine, zu demonstrieren, dass die Unterstützung Wirkung zeigt - und der Sieg der Russen eben nicht „unvermeidlich“ ist. Laut Ryan könnte es beim Angriff auf Kursk auch darum gegangen sein, die Moral der eigenen Leute zu stärken.

„Der Angriff hat alle - auch die Amerikaner - überrascht“

Ralph Thiele, Oberst a. D. und Vorsitzender der in Berlin ansässigen Politisch-Militärischen Gesellschaft, sagt im Gespräch mit FOCUS online: „Der ukrainische Angriff hat alle – auch die Amerikaner – überrascht.“ Für die Offensive kann es in seinen Augen viele Beweggründe geben.

„Will man die russischen Streitkräfte festnageln? Will man eine Entlastung der verlustreichen Gefechte bei Pokrowsk erzwingen? Will man dem Westen zeigen, dass man noch große Schlachten schlagen kann? Will man ein Tauschpfand für etwaige Waffenstillstandsverhandlungen?“ Was wirklich zutrifft, ist bis jetzt unklar.

In jedem Fall, so erklärt es Thiele, kommt der Angriff zu einem kritischen Zeitpunkt des Krieges. „Die Ukraine verliert Tag für Tag Territorium und Kiew ist zutiefst besorgt, dass die Unterstützung der USA und auch der Europäer nachlassen könnte.“

Der Militärexperte sieht den Kursk-Vorstoß insgesamt kritisch. „Je weiter die ukrainischen Kräfte nach Russland vorstoßen, desto sicherer ist ihr Untergang, sofern nicht große Verstärkungen folgen“, sagt er.

„Hier werden ukrainische Truppen für 'höhere Ziele' geopfert“

Dafür hat die Ukraine laut dem Experten allerdings keine Reserven. „Hier werden absehbar Truppen für „höhere Ziele“ geopfert – Truppen, die zur Stabilisierung der Front bei Pokrowsk dringend gebraucht werden.“

Auch andere Beobachter sind skeptisch. Der Militärexperte Robert Lee, Fellow des Foreign Policy Research Institute im US-amerikanischen Philadelphia, schrieb zum Beispiel auf X: „Es ist unwahrscheinlich, dass diese Operation einen signifikanten Effekt auf den Kriegsverlauf haben wird.“

Er weist in seinem Beitrag - genau wie Thiele - darauf hin, dass die Ressourcen der Ukraine, den aktuellen Angriff zu verstärken, begrenzt sind. Das macht das Vorgehen in Lees Augen geradezu riskant.

Thiele sieht für Russland sogar eine „psychologische Schwelle“ überschritten. Nicht nur sei die Region Kursk „ein logistischer Rückraum für den Angriffskrieg auf die Ukraine“ und wichtig, was Gaslieferungen an verbliebene europäische Abnehmer betrifft.

„Das wird Putin für sein Narrativ nutzen"

„Es wird auch die Unversehrtheit Russlands am Boden durch reguläre ukrainische Truppen verletzt“, so der Militärexperte. Auf X gibt es mittlerweile Gerüchte, dass vierachsige Stryker-Radschützenpanzer aus Lieferungen der U.S. Army beim Kursk-Manöver zum Einsatz kamen. Für Thiele steht fest: „Das wird Putin für sein Narrativ „Der Westen greift uns an“ nutzen.“

Verteidigungsexperte Richter teilt einige der Kritikpunkte. „Die Ukraine befindet sich in der Defensive und verliert täglich wegen der anhaltenden Angriffe überlegener russischer Truppen vor allem im Gebiet Donezk an Boden“, sagt er.

„Die ukrainischen Verteidiger leiden unter akuter Personalknappheit. Reserven werden dort dringend gebraucht.“ Er glaubt auch, dass der ukrainische Vorstoß nach hinten losgehen könnte.

„Russland könnte im Gebiet Sumy - wie schon im Frühsommer bei Charkiw - einen Angriff starten, um eine weitere Pufferzone einzurichten. Dann müsste die Ukraine ihre schon ausgedünnte Front weiter verlängern und selbst Reserven aus den Schwerpunktabschnitten abziehen.“ Richter sieht den Angriff letztlich nicht als „operativ nachhaltige Bedrohung der russischen Armee“.

Angriff der Ukraine könnte nach hinten losgehen

Ebenfalls zum Kursk-Manöver hat sich der Militäranalyst Colby Badwhar geäußert. Er schrieb am Mittwoch auf X: „Die Kursk-Operation dürfte in der Biden-Administration erhebliche Panik auslösen. Warum? Weil ihr Narrativ von den 'Eskalationsrisiken' zerrüttet wird.“

Die Ukraine habe eine große Operation auf russischem Territorium begonnen und Russland „wird keine andere Antwort haben, als weiterhin ukrainische Städte zu bombardieren". Badwhar: „Wir sind dem Dritten Weltkrieg heute nicht näher als gestern. Tatsächlich sind wir davon noch weiter entfernt.“

Thiele plädiert für Zurückhaltung

Das klingt, als müsste die USA nun härter reagieren, da Putin sich nicht wehrt. Als hätte man sich mit der Argumentation der Vorsicht unglaubwürdig gemacht. Thiele findet aber, dass US-Präsident Joe Biden „in seiner Vorsicht vor einer nuklearen Eskalation gut beraten ist“.

Westliche Narrative werden dem Militärexperten zufolge „allenfalls durch die Unwirksamkeit westlicher Sanktionen und die Unzuverlässigkeit zugesagter Waffen- und Munitionslieferungen“ zerrüttet.

Thiele plädiert insgesamt für Zurückhaltung im Umgang mit Putin. Denn der reagiert schon jetzt mit einer ganzen Palette an hybriden Antworten auf mögliche Bedrohungen. „Das Spektrum reicht von Brandanschlägen, Cyberangriffen und Attentaten quer durch Europa bis hin zur Befeuerung der Gewalt gegen Ausländer in Großbritannien und Desinformation in sozialen Medien“, sagt der Militärexperte.

Wie sollte der Westen jetzt reagieren?

Putin spielt, so erklärt er es, mit sozialen Konflikten in anderen Ländern. Wenn der Westen noch stärker in den Ukraine-Krieg einsteigt, würden sich diese „Bemühungen“ des Kremls verstärken. Das bedeutet zwar nicht, die Ukraine fallen zu lassen.

Am Ende ist für Thiele aber klar: „Wir sollten diese ukrainische Offensive als ein Warnzeichen dafür nehmen, wie kritisch die Ukraine ihre derzeitige Lage einschätzt und unsere diplomatischen Anstrengungen zu einer Beendigung der militärischen Auseinandersetzung auf das Niveau bringen, das wir im Nahostkonflikt für angemessen halten.“

Und auch Richter sagt: „Ein umfassender 'Siegfrieden' dürfte für beide Seiten unerreichbar sein. Es ist die Pflicht der Politik, diplomatische Wege aus dem Konflikt zu finden, die zu einem Ausgleich der Sicherheitsinteressen der Kriegsgegner führen.“