„Was für ein Bullshit“ - Bürgergeld-Empfänger wütet über „Arsch-hoch-Prämie“ und räumt mit Vorurteil auf
Die Aufregung um die 1000-Euro-Prämie für Bürgergeldempfänger, die eine Arbeit aufnehmen und dann mindestens ein Jahr im Job durchhalten, ist groß. Auch bei Stefan W., der immer wieder mit Hilfe des Jobcenters versucht hat, in Arbeit zu kommen. Warum ist die vorgeschlagene Prämie für den 47-Jährigen das falsche Signal?
FOCUS online: Herr W., sprechen wir über die Arbeitsmoral von „Langzeitarbeitslosen“. Zunächst: Seit wann beziehen Sie Bürgergeld?
Stefan W.: Seit Mai 2023. Davor habe ich sieben Jahre lang gearbeitet. Und davor war ich wiederum zehn Jahre arbeitslos.
Dann dürften Sie ein potenzieller Kandidat für die 1000-Euro-Prämie sein, die gerade für Bürgergeldbezieher diskutiert wird, die eine Arbeit aufnehmen – und dann ein Jahr lang im Job durchhalten.
Soll ich da jetzt jubeln?
Im Ernst, was haben Sie gedacht, als Sie von dieser Prämie gehört haben?
Was für ein Bullshit.
Warum?
Weil dieser angebliche Motivationsanreiz an der Realität der Menschen vorbeigeht. Wer noch nie längere Zeit ohne Arbeit war, hat in aller Regel keine Ahnung, was das bedeutet. Gerade auch für die Wiederaufnahme einer Tätigkeit.
Bürgergeld-Empfänger: „Das gepflegte Auftreten kostet nun mal“
Wo genau sehen Sie Probleme?
Das geht schon beim Bewerben los. Mit dem Bürgergeld kommt man gerade so über die Runden. Oft mehr schlecht als recht. Man hat ein Dach über dem Kopf, muss nicht frieren, keinen Hunger leiden. Randnotiz: Auch von Nudeln mit Ketchup wird man satt, für mehr reicht es nämlich oft nicht.
Was ich aber eigentlich sagen möchte: Für Extras ist daneben nichts drin. Und das sogenannte gepflegte Auftreten, das in Bewerbungsgesprächen nun mal vorausgesetzt wird, kostet nun mal.
Was verstehen Sie unter einem gepflegten Erscheinungsbild?
Eben nicht die zerrissene Jeans oder die Jogginghose. Ein ordentliches Beinkleid, ein Hemd, darüber hinaus vielleicht eine anständige Tasche beziehungsweise einen Rucksack, darin im Idealfall Vesperbox und Trinkflasche.
Das Mineralwasser in der Pfandflasche macht nun mal nicht wirklich was her. Ich wollte so jedenfalls nicht bei einem potenziellen neuen Arbeitgeber aufschlagen. Nicht am ersten Arbeitstag und auch nicht, wenn ich mich überhaupt zum ersten Mal vorstelle.
Haben Langzeitarbeitslose nur zerschlissenen Klamotten?
Die traurige Wahrheit ist: Ja, das ist tatsächlich oft so. Es gibt einfach andere Dinge, in die investiert man zuerst. Äußerlichkeiten sind im Alltag eher sekundär. Aber wenn ein Bewerbungsgespräch gut laufen soll, zählt so was.
„Wer sich um einen Job bemüht, bräuchte die Finanzspritze vorher“
Inwiefern sind diese Überlegungen nun eine Kritik an der 1000-Euro-Prämie?
Das Geld kommt beziehungsweise käme zum falschen Zeitpunkt. Wer sich um einen Job bemüht, bräuchte die Finanzspritze vorher. Wie gesagt: Für ein entsprechendes Auftreten, für eine gute Ausgangssituation.
Auch Mobilität ist ein Stichwort. Denn natürlich tue ich mich leichter mit einem neuen Job, wenn ich schon im Vorfeld weiß, der Weg zur Arbeit ist kein Problem. Weil ich zum Beispiel ein Abo habe.
Ist das nicht der Fall, bin ich möglicherweise mit einer angezogenen Handbremse unterwegs. Mein Gegenüber spricht über Details des Tätigkeitsprofils und ich überlege, wie ich das hinbekomme, den Weg zur Arbeit zu organisieren.
Erstattet das Jobcenter denn nicht die Fahrtkosten, die im Zusammenhang mit einem Bewerbungsgespräch entstehen?
Das schon, man kann dafür Gutscheine beantragen. Für Fahrtkosten und, wenn ich es richtig weiß, sogar für einen Friseurtermin.
Aber bleiben wir bitte realistisch: Wenn mich ein Arbeitgeber in einer Woche zum Gespräch sehen will – glauben Sie wirklich, dass ich die Knete so rechtzeitig vom Amt bekomme, dass ich mich entsprechend vorbereiten kann? Meine Erfahrung mit deutschen Ämtern lehren mich eher was anderes…
Wollen Sie sagen, Ihnen bliebe für einen solchen Termin nichts anderes als die zerschlissene Hose?
Ich selbst befinde mich in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Ich habe Verwandtschaft, die mich unterstützt. Man schießt mir hier und da was zu, lässt mich mit am Küchentisch sitzen. Mit einem schönen Stück Fleisch auf dem Teller zum Beispiel - was für mich sonst nicht bezahlbar wäre. Luxus!
Also, um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe das Klamottenthema jetzt nicht so, andere aber sehr wohl. Andere überlegen auch zweimal, ob sie sich den öffentlichen Nahverkehr leisten können. Ich weiß, viele finden die 39 Euro für ein Monatsticket nicht viel.
Ich kenne aber Leute, die sich von diesem Betrag zwei Wochen lang ernähren, kein Witz! Da gibt es dann fast jeden Tag Nudeln mit Ketchup.
„Das Amt will einen Nachweis, weshalb ein Bekleidungsstück angeschafft wurde“
Nochmal zu Verständnis: Sie sprechen jetzt nicht über die eigene Situation, richtig?
Nein, aus Kostengründen esse ich zwar auch kaum Fleisch, aber ein bisschen mehr Abwechslung als täglich Nudeln habe ich dann doch auf dem Teller.
Wenn, dann wäre für mich schon eher die Bekleidung ein Thema. Genauer: Das Schuhwerk. Ich habe Größe 47, da kann man sich nicht mal eben irgendwelche Billigschuhe holen. So viel zum Thema Vorstellungsgespräch…
Die Leute vom Jobcenter dürften an der Stelle allerdings wieder über den Punkt Bekleidungsgutscheine argumentieren.
Nochmal: Solche Maßnahmen sind nicht durchdacht. Schon allein, weil das Amt natürlich einen Nachweis will, weshalb ein Bekleidungsstück oder ein Paar Schuhe angeschafft wurde.
Und glauben Sie wirklich, dass das gut ankommt, wenn jemand im Vorstellungsgespräch hergeht und sagt: Bitte bestätigen Sie mir diesen Termin – ich bin im Bürgergeldbezug und muss dem Amt gegenüber nachweisen, dass ich diesen Anzug hier nicht fürs Feiern mit Freunden gekauft habe?
Vermutlich nicht. Haben Sie bessere Ideen?
Wissen Sie, ich finde den Begriff Anschubfinanzierung, den man im Zusammenhang mit der 1000-Euro-Prämie öfter gehört hat, eigentlich gar nicht so schlecht. Aber das sollte dann bitte wörtlich genommen werden.
1000 € im Vorfeld eines Bewerbungsprozesses, von mir aus auch als Darlehen – das wäre gut. Man könnte das Ganze ja an Bedingungen knüpfen.
Zum Beispiel?
Naja, wenn man den Job behält, muss man das Geld zurückzahlen. Und wenn nicht – dann eben nicht. Wenn Befürworter der Prämie von einem Hebel sprechen, der „gezielt“ ansetzt, kann ich nur lachen.
Für mich ist diese Prämie im besten Fall vorgespielter Aktivismus, im schlechtesten ist sie ein gezieltes Instrument – aber nicht für Lösungen, sondern zur Stimmungsmache! An den Stellen, wo Langzeitarbeitslosen wirklich geholfen werden könnte, kommt kein Geld an.
„Aber dann kam Corona… und wie so viele war ich plötzlich arbeitslos“
Bei einem Vorschuss, wie Sie ihn gerade beschrieben haben, meinen Sie?
Zum Beispiel. Oder auch bei Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen. Rechnen wir mal mit 100.000 Menschen, die der Staat über die Prämie in Arbeit bringen würde. Das würde ihn bei 1000 Euro pro Kopf hundert Millionen Euro kosten.
100 Millionen Euro – das ist für den Staatshaushalt eher lächerlich. Wenn man wirklich in Bildung in Jobs investieren wollte, müsste man da schon noch eine Null mehr dranhängen.
Investitionen in Bildung und Jobs – das klingt sehr allgemein. Sprechen wir noch mal ganz konkret über Ihre Situation: Glauben Sie, dass Sie von solchen Investitionen profitieren würden? Kämen Sie damit schneller wieder in Arbeit?
Da bin ich mir sogar sicher. Ich habe ursprünglich eine Ausbildung als Vermessungstechniker gemacht… und dann, nachdem ich zwei Jahre lang in diesen Job gearbeitet habe, das Abitur nachgeholt und ein Studium begonnen.
Leider war ich mit 29 zu alt, um weiter Bafög zu bekommen. Andere schaffen das, sich das Studium über Jobs zu finanzieren. Ich gehöre nicht zu diesen Leuten. Daher ist es mit einem Abschluss nichts geworden.
Ich hatte Glück, war dann sieben Jahre lang Disponent in einem Sozialkaufhaus. Aber dann kam Corona… und wie so viele war ich plötzlich arbeitslos.
Hatten beziehungsweise haben Sie keine Chance, wieder als Vermessungstechniker zu arbeiten?
Genau das ist ja der Punkt. Die Technik hat sich massiv weiterentwickelt, es ist inzwischen ziemlich schwer, da reinzukommen.
Kann man sich nicht fortbilden?
Gute Frage, genau darum geht es. Und an der Stelle hatte ich noch mal Glück: Mein derzeitiger Berater beim Jobcenter ist ziemlich fit. Er hat verstanden, in welche Richtung es für mich gehen könnte, wo ich eine Zukunft hätte.
Nachdem ich einige eher allgemeine Weiterbildungsmaßnahmen gemacht habe, hilft mir der Berater jetzt dabei, eine Qualifizierung im Bereich Vermessungstechnik zu bekommen – der Schwerpunkt liegt dabei auf modernen Programmen wie beispielsweise Geoinformationssystemen.
Die Fortbildung würde ein halbes Jahr lang dauern, ein Job dürfte mir danach sicher sein.
„Wenn man den nur genug Geld bietet, kriegen Sie den Hintern hoch“
Und wo liegt nun das Problem?
In der Bewilligung der Gelder für die Qualifizierungsmaßnahme. In diesem Jahr wird das nichts mehr, sagt mein Berater. Vielleicht, hoffentlich, dann im Nächsten. Sollte es im Januar losgehen, hätte ich ein Jahr gewartet.
Verschenkte Zeit?
Stefan: Definitiv. Und so unnötig verschenkt. Denn mal ehrlich, dieser Hebel würde nun wirklich gezielt ansetzen. Ich bin da sicher kein Einzelfall, mit ähnlichen Maßnahmen könnte man sehr vielen sogenannten Langzeitarbeitslosen helfen.
Stattdessen schwadronieren Politiker lieber über – pardon – Arsch-Hoch-Prämien. Was wird denn da bitte für ein Menschenbild vermittelt!
Sagen Sie.
Ich fürchte, die Botschaft, die bei einigen angekommen ist, geht so: Wenn man den nur genug Geld bietet, kriegen Sie den Hintern hoch. Was das im Umkehrschluss heißt, ist ja wohl klar.
Was denn?
Euch Bürgergeldempfängern geht es gut – sonst hättet ihr schließlich längst was unternommen. Die 1000 Euro-Prämie sind für mich nichts als eine Unterstellung durch die Hintertür. Nach dem Motto: Schaut her, so muss man diese Leute locken. Damit sie endlich, endlich arbeiten gehen.
Was löst das bei Ihnen aus?
Fassungslosigkeit. Wut. Ich könnte jetzt ja sagen, wie sehr ich mich freue, wenn endlich die Fortbildung losgeht. Aber man traut sich ja kaum, sowas zu äußern. Dank Debatten wie der, die da gerade läuft, werden Leute wie ich nur noch weniger ernst genommen als ohnehin schon.