Für ein stabiles Rentensystem - Rentenökonom Raffelhüschen: „Wir müssen die Beamten bis 70 arbeiten lassen“
Der Sozialökonom Bernd Raffelhüschen fordert von der Bundesregierung eine umfassende Reform der Rente. Denn das Rentenniveau auf 42 Prozent zu senken, werde nicht reichen, um das System dauerhaft zu stabilisieren, warnt der Freiburger Experte.
Herr Prof. Raffelhüschen, die Bundesregierung hat im Frühjahr das Rentenpaket II beschlossen. Was halten Sie von der Reform?
Bernd Raffelhüschen: Gar nichts.
Weil?
Raffelhüschen: Weil Hubertus Heil mit seinem Vorschlag völlig daneben liegt. Er sagt einfach: Das Rentenniveau bleibt stabil und die Rentner bekommen das, was sie immer bekommen haben. Dafür wird im Gegenzug dann eben der Bundeszuschuss erhöht.
Heil nennt das Generationen-gerecht?
Raffelhüschen: Was ist daran gerecht, wenn nur die Jungen zahlen und die Alten weiter alles kriegen, was sie schon die ganze Zeit bekommen haben? Im Moment ist es doch so, dass die Rentner während ihres Erwerbslebens selbst einen deutlich geringeren Beitragssatz gezahlt haben als die Generation ihrer Kinder, die jetzt im Arbeitsleben steht. Bei der Rentenhöhe spiegelt sich das aber nicht wider. Im Gegenteil: Hier wird der Beitragssatz einfach gesetzlich auf relativ hohem Niveau festgeschrieben. Das ist weder generationen- noch verursachergerecht.
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Wegen der stark gesunkenen Geburtenzahlen oder?
Raffelhüschen: Genau. Diejenigen, die jetzt die hohen Beiträge tragen müssen, können doch nichts dafür, dass sie so wenige sind. Dafür verantwortlich sind die geburtenstarken Jahrgänge, die zu wenige Kinder in die Welt gesetzt haben. Sie haben die doppelte Bringschuld im Umlageverfahren nicht erbracht, weil sie weniger in die Rentenkasse gezahlt haben und auch noch weniger Nachwuchs haben. Das alles zeigt: Die sogenannte Rentenreform von Hubertus Heil ist kompletter Blödsinn.
BDA-Chef Dulger hält die Reform für das „teuerste Sozialgesetz des Jahrhunderts”. Zu Recht?
Raffelhüschen: Absolut.
Laut BDA steigen die Mehrausgaben für die Rente in den kommenden 20 Jahren auf ungefähr 500 Milliarden Euro.
Raffelhüschen: Wir sind gerade dabei, das durchzurechnen. Aber wahrscheinlich ist das immer noch viel zu wenig. Wir gehen für diesen Zeitraum eher von einer deutlich höheren Zahl aus – und das eher konservativ geschätzt.
Dabei muss der Bund die Rentenkasse schon jetzt mit gut 112 Milliarden Euro stützen - bei einem Gesamthaushalt von 480 Milliarden. Wie lange kann das noch gut gehen?
Raffelhüschen: Wenn Hubertus Heil sich mit seinem Vorschlag durchsetzt, wird der Bundeszuschuss noch weiter steigen. Aber das ist typisch Hubertus Heil: Wann immer er etwas Reform nennt, bedeutet das Mehrausgaben. Sparen ist für ihn ein Fremdwort.
Aber noch mal: Wie lange können wir uns das noch leisten?
Raffelhüschen: Da würde ich keine Prognose wagen. Es kann ja sein, dass die Ampel die nächsten Monate gar nicht überlebt. Aber man kann das auch noch einige Jahre durchhalten. Nur wird es halt immer schwieriger. Sie dürfen ja nicht vergessen: Die Babyboomer gehen jetzt in den Ruhestand. In den kommenden Jahren werden damit Millionen Menschen von Beitragszahlern zu Rentenempfängern. Damit wird die ohnehin angespannte finanzielle Lage der Rentenkasse noch komplizierter. Und irgendwann im Laufe der nächsten zehn Jahre bricht das System dann komplett zusammen.
So weit sind wir ja zum Glück noch nicht. Aktuell liegt der Beitragssatz für die Rente bei 18,6 Prozent. Wie wird sich das mittel- und langfristig weiter entwickeln?
Raffelhüschen: Das Arbeitsministerium spricht in seinem Gesetzentwurf von einem Beitragssatz von gut 22 Prozent. Das ist natürlich viel zu niedrig. Sollten wir – wie es unterstellt wird – künftig tatsächlich pro Jahr netto 300.000 Zuwanderer in den deutschen Arbeitsmarkt haben, würden wir Ende der 30er-Jahre wohl irgendwo um die 24 Prozent landen. Wenn wir mit realistischeren Größenordnungen rechnen – also, mit einer jährlichen Netto-Zuwanderung von 200.000 davon eher ein Drittel in den Arbeitsmarkt – steuern wir eher auf Beitragssätze von 25 oder 26 Prozent zu – und zwar bereits um das Jahr 2040.
Damit werden die deutschen Unternehmen im internationalen Wettbewerb weiter an Boden verlieren?
Raffelhüschen: Natürlich. Zumal ja nicht nur die Beitragssätze zur Rente steigen werden. Auch die Sätze für die Krankenversicherung werden künftig drastisch steigen. Und in der Pflegeversicherung sieht es kaum besser aus.
Das heißt?
Raffelhüschen: Dass wir wahrscheinlich um das Jahr 2035 bei knapp 50 Prozent Sozialabgaben liegen werden, und um das Jahr 2045 sehr wahrscheinlich bei knapp 60 Prozent. Damit gingen dann fast zwei Drittel der Lohnsumme in die sozialen Sicherungssysteme. Und Steuern will der Staat ja auch noch. Wenn Ihnen in einem solchen Umfeld von Ihrem Lohn am Ende des Monats netto gut zehn Prozent übrig bleiben, können Sie froh sein.
Dann ginge morgens ja wirklich kaum noch jemand aus dem Haus?
Raffelhüschen: Wohl kaum (lacht). Zumal wir unsere Wettbewerbsfähigkeit dann komplett einbüßen würden und Deutschland auf das Niveau eines Entwicklungslands zurückfallen würde. Aber ganz so schlimm wird es zum Glück nicht kommen. Denn die junge Generation wird sich das nicht gefallen lassen.
Weil sie auf die Barrikaden geht?
Raffelhüschen: Natürlich. Wir steuern auf einen massiven Generationenkonflikt zu. Und da sehen die Alten alt aus. Denn um es ganz klar zu sagen: Die Wertschöpfung wird von denjenigen verteilt, die sie erstellen. Und das sind nicht die Alten.
Was muss also passieren?
Raffelhüschen: Wir müssen zurück zum Nachhaltigkeitsfaktor…
…also zum Ausgleichsfaktor in der jährlichen Rentenanpassung, der das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentenempfängern und die Konjunktur berücksichtigt….
Raffelhüschen: … und der mit der Agenda 2010 unter dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeführt wurde. Den hat Hubertus Heil ausgesetzt. Das war ein Riesenfehler, den wir jetzt dringendst korrigieren müssen. Außerdem muss das Rentenniveau von aktuell 48 auf rund 42 Prozent abgesenkt werden. Und wir müssen das Rentenalter ganz, ganz schnell hochschrauben –und zwar auf 69 oder 70 Jahre bis zum Jahr 2030.
Fachleute plädieren auch für längere Wochenarbeitszeiten und die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche?
Raffelhüschen: Zu Recht. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass wir mit weniger Menschen ein Sozialprodukt erstellen müssen, das für alle Transferempfänger reicht. Das geht nicht mit einer Vier-Tage-Woche und 35 Stunden. Außerdem brauchen wir – wie gesagt – eine funktionierende Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Und wenn es uns dann noch gelingt, dass die vielen Frauen in Teilzeit länger arbeiten, hätten wir sehr viel erreicht. Dann wäre ein Rentenniveau von 42 Prozent möglich – und die Beitragssätze könnten stabil bleiben.
Ohne Vorsorge durch den Einzelnen wird das kaum gehen?
Raffelhüschen: Ja. Wir brauchen zusätzliche Ansätze wie die betriebliche und private Altersvorsorge, denn klar ist: Eine Rente von 42 Prozent wird nicht reichen.
Das Thema Altersbezüge wird auch durch die stark steigenden Pensionslasten erschwert, die schon jetzt in vielen Länder-Haushalten tiefe Spuren hinterlässt?
Raffelhüschen: Die Pensionslasten sind ein Riesen-Problem. Das müssen wir ganz dringend angehen.
Wie?
Raffelhüschen: Indem wir den Nachhaltigkeitsfaktor aus der Rentenversicherung auf die Beamten übertragen. Aber das wird nicht reichen.
Sondern?
Raffelhüschen: Wir müssen die Beamten bis 70 arbeiten lassen. Das ist zumutbar und zwar ab sofort. Bei Beamten gibt es ja gar kein Rentenzugangsalter. Das bestimmt der Staat und der kann Beamte auch mit 68 oder 69 jederzeit wieder reaktivieren. Zugleich müssen wir die Pensionen der Beamten von der Lohnentwicklung der aktiven Beamtenschaft entkoppeln.
Was halten Sie von Forderungen, Beamte in die Rentenversicherung einzahlen zu lassen?
Raffelhüschen: Ich würde den anderen Weg gehen und die Verbeamtung drastisch zusammenstreichen. Hoheitlich-rechtliche Beamte wie Polizisten oder Richter sollten weiterhin Beamte bleiben. Aber wenn Lehrer und Hochschullehrer nicht mehr verbeamtet würden, hätten wir das Problem schon vom Hals. Allerdings haben Lehrer eine massive Lobby. Das ist ein ganz dickes Brett.
Verschiedene Länder haben schon versucht, die Verbeamtung von Lehrern zurückzufahren. Das ist aber gescheitert, weil andere Länder Lehramtskandidaten mit der Aussicht auf Verbeamtung angelockt haben. Es ginge also nur, wenn sich Bund und Länder auf ein gemeinsames Vorgehen einigten.
Raffelhüschen: Dass sich Bund und Länder hier einigen, ist nahezu ausgeschlossen.
Wie könnte es sonst gehen?
Raffelhüschen: Wir bräuchten die Rückkehr zur Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes. Die wurde in der Föderalismusreform II 2009 abgeschafft. Aber das war ein Riesenfehler.
Österreich hat vorgemacht, wie’s geht?
Raffelhüschen: Und ist dabei dem skandinavischen Vorbild gefolgt. Daran sollten wir uns orientieren. Aber mit der aktuellen Ampel-Regierung wird das nichts. Ob es mit einer anderen Mehrheit möglich wäre, würde ich bezweifeln. Denn angesichts der absehbaren Widerstände erfordert ein solcher Schritt eine ganze Menge Mut –auch für einen möglichen Kanzler aus der Union. Auch der stellt sich – wie damals Schröder – gegen große Teile seines eigenen Lagers.