Flüchtlinge werden für Erdogan zum Problem

Kurz vor der Wahl am Sonntag befeuern die Oppositionsparteien eine neue Debatte. Alle scheinen sich einig zu sein: Die „Gäste“ sollen gehen.

Meral Aksener war angetreten, um einen Regimewechsel auszulösen. Die ehemalige türkische Innenministerin und Abgeordnete der oppositionellen MHP verließ ihre Partei im Streit, nachdem diese sich Präsident Erdogan und seiner AKP zu sehr angenähert hatte.

Sie gründete ihre eigene Partei, die „Gute Partei“, rekrutierte ohne finanzielle Mittel Unterstützer im ganzen Land, organisierte einen klugen Wahlkampf und wurde sogar zur Stimme der Feministen im Land, die gerne eine Frau an der Spitze des Staates sehen würden.

Am Dienstag, fünf Tage vor der wichtigen Wahl, verkürzte sie ihre Wahlkampfstrategie auf ein bislang unbeachtetes Thema: die vier Millionen Flüchtlinge im Land. „Jeder Bürger ist frei und glücklich in seinem eigenen Land“, setzte sie auf einer Veranstaltung im nordwesttürkischen Bolu an und fuhr fort: „Nachdem ich gewählt bin, werde ich als Erstes die Beziehungen zu Syrien kitten und die vier Millionen syrischen Brüder und Schwestern zurück in ihre Heimat schicken“, rief sie der Menge zu.

Die 36 Milliarden US-Dollar, die die Türkei nach eigenen Angaben bislang für Schutzsuchende aufgebracht hat, sollten lieber für industrielle Entwicklung und Produktion ausgegeben werden.

Die Türkei befindet sich in der Hochphase des wichtigsten Wahlkampfes seit Jahrzehnten. Am Sonntag wählen knapp 60 Millionen Türkinnen und Türken in zwei separaten Wahlen den Präsidenten des Landes und die Abgeordneten für das Parlament. Gewinnt Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan, wird eine Verfassungsreform aktiviert, die ihm mehr Macht verleiht, das Land stabiler machen und gleichzeitig in eine Autokratie treiben könnte.

Opposition könnte Erdogan in eine Stichwahl zwingen

Die Opposition gilt als gut aufgestellt. Glaubt man den Umfragen, könnten die anderen Kandidaten Präsident Erdogan in eine unvorhersehbare Stichwahl zwingen. Auch die Mehrheit von Erdogans AKP ist noch nicht sicher.

Analog zum Regierungsstreit in Deutschland ist die Hochphase des türkischen Wahlkampfs von einem Streit über den Umgang mit den Flüchtlingen im eigenen Land geprägt. Die Türkei beherbergt vier Millionen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und wirtschaftlicher Not aus ihrer Heimat geflohen sind. Für die Oppositionsparteien ist klar: Sie müssen weg.

Erdogans größter Gegner, Muharrem Ince von der Atatürk-Partei CHP, kritisierte in einem Interview die Entscheidung der Regierung, 70.000 Syrern zum Ende des Fastenmonats Ramadan eine zehntägige Reise zur Familie in der Heimat zu erlauben. „Wenn sie doch in ihre Heimat reisen können, sollen sie gleich dort bleiben“, sagte Ince. „Ist unser Land eine Suppenküche? Mein Land ist voll mit Arbeitslosen!“

In der Türkei leben so viele Flüchtlinge wie in keinem anderen Land auf der Welt. Im März 2016 handelte die Türkei mit der EU ein Flüchtlingsabkommen aus. Danach soll die Türkei dafür sorgen, dass nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Europa kommen. Im Gegenzug soll Ankara insgesamt sechs Milliarden Euro Hilfen erhalten. Geflossen ist davon bisher nur ein kleiner Teil. Seit Februar 2016 können Flüchtlinge in der Türkei legal arbeiten.

Anders als in Deutschland haben die knapp vier Millionen Schutzsuchenden in der Türkei tatsächlich Auswirkungen auf das alltägliche Leben. Sie übernehmen viele einfache Jobs, die sonst Türken erledigt haben, und haben vor allem im Südosten des Landes die Mietpreise in die Höhe getrieben.

Gleichzeitig haben sie offiziellen Angaben zufolge 334 Millionen US-Dollar in die türkische Wirtschaft gepumpt, um insgesamt mehr als 6000 eigene Firmen zu gründen. Auch das Geld, das Syrer über den EU-Flüchtlingspakt erhalten, kommt letztlich der türkischen Wirtschaft zugute.

In Grenzstädten wie Gaziantep oder Metropolen wie Istanbul arbeiten sie häufig als Kellner. Im südtürkischen Mersin sind wiederum Zehntausende überwiegend wohlhabende Syrer ansässig geworden. Ein Geflüchteter dort hat vor Kurzem eine große Brotfabrik eröffnet.

AKP beharrt auf Willkommenskultur – Bevölkerung sieht das anders

Ein sensibles Thema. Die Wirtschaft in der Türkei wächst, doch die Inflation und der schwache Wechselkurs fressen die Früchte der Hochkonjunktur schnell auf. Ein gefundenes Fressen für die Opposition. „Unsere Soldaten fallen in Syrien im Kampf gegen den Terror, während junge syrische Männer mit munterem Stolz unsere Straßen bevölkern“, sagte CHP-Parteichef Kemal Kilicdaroglu über die Flüchtlinge im Land. Eine Umfrage der Istanbuler Kadir-Has-Universität gibt ihm Rückenwind. Demnach sind 61 Prozent der Befragten unzufrieden mit der Flüchtlingssituation im Land.

Die Regierungspartei AKP beharrt derweil auf einer Willkommenskultur. Gleichzeitig hat es die Opposition bereits geschafft, den Präsidenten vor sich her zu treiben. Sagte Erdogan noch Anfang des Jahres, er wolle Häuser für die 3,5 Millionen „Gäste“ im Land bauen, wechselte er im Laufe des Wahlkampfs den Ton. Die Türkei werde den Norden Syriens an der Grenze zur Türkei von Terroristen säubern und Flüchtlinge ermutigen, in ihre Heimat zurückzukehren.

Leyla Sahin Usta, AKP-Abgeordnete und Mitglied der Flüchtlingskommission im türkischen Parlament, legte kürzlich nach. „Unsere Politik soll Syrerinnen und Syrer ermutigen, in ihre Heimat zurückzukehren“, sagte sie. Das klingt anders als noch zu Beginn des Jahres. Doch die neue Rhetorik könnte der AKP wichtige Stimmen retten.