Schwerer Motorradunfall im Ahrtal - Zwei Jahre nach Flut zeigt Todesfahrt das bittere Versagen der Ahrtal-Behörden
Zwei Jahre nach der Flut im Ahrtal stirbt ein Motorradfahrer in Altenahr bei einem Verkehrsunfall. Weitere eineinhalb Jahre später stellen seine Kinder Strafanzeige gegen die Verbandsgemeinde Altenahr. Der Vorwurf: Ihr Vater starb durch Behördenschlamperei, die mit der Flut in Zusammenhang steht.
Julian Hohenreiter (31) will in seinem Jagdrevier Ahrweiler 6 eigentlich nach Rehwild Ausschau halten an jenem sonnigen Pfingstmontag 2023. Doch dem Jäger fällt ein Rettungshubschrauber auf, er schreibt eine WhatsApp an seinen Vater Gerd, der gerade mit seinem Motorrad an der Ahr unterwegs ist: „Was ist da los im Ahrtal?“
Nach einem Besuch bei den Großeltern am Morgen hatte Julian seinen Vater am frühen Nachmittag bei der Tante abgesetzt, dort steht sein Motorrad. „Er fuhr schon mal bis zum Nürburgring, wenn da etwas los war. Keine großen Strecken, er war ein gemütlicher Fahrer.“ Während der Vater zu seiner Biker-Tour aufbricht, geht Julian auf die Jagd in sein Revier.
Die Sicht war versperrt
Julian bekommt keine Antwort auf seine WhatsApp. Stattdessen ruft ein Polizist vom Handy seines Vaters aus an und druckst herum. Er möge seinen „Standort“ durchgeben. Julian wird ungehalten und will wissen, was los ist: Der Vater hatte in Altenahr einen Motorradunfall und ist auf dem Weg in die Uniklinik Bonn verstorben, sagt der Beamte.
Gerd Hohenreiter kam aus Richtung Altenburg und fuhr auf der Hauptverkehrsstraße des Ahrtals, der B267, in Richtung Mayschoß. Die B267 ist eine Vorfahrtstraße. Wenige Meter vor der Unfallstelle in Altenahr steht an der Einmündung zum Rossberg ein Vorfahrtstraßenschild, im Behördencode trägt es die Nummer 306. Von der B267 führt in Altenahr eine Seitenstraße rechts ab in den Ort: Im Wallgarten. Als Gerd Hohenreiter auf die Höhe dieser Seitenstraße kommt, „tastet“ sich ein PKW-Fahrer in die Hauptstraße links hinein, wie es in den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Koblenz vom Dezember 2023 heißt, die FOCUS online Earth vorliegen.
Der „ortsfremde“ Autofahrer, kann nicht sehen, ob jemand von links kommt: „Der Blick des Beschuldigten nach links in die Tunnelstraße ist durch einen Zaun sowie zwei Paletten mit darauf befindlichen Steinen versperrt“, heißt es in den Ermittlungsakten. Gerd Hohenreiter prallt mit seiner Harley gegen das Auto und stirbt an „multiplen Verletzungen“.
„Mein Vater war mein letzter Anker“
Nur „Leere“ empfindet Julian Hohenreiter seitdem, sagt er FOCUS online Earth. „Mein Vater war mein letzter Anker.“ Als er das erzählt, kommen dem jungen Mann die Tränen, die Stimme bricht.
Julian ist Meister für Kreislauf- und Abfallwirtschaft beim Kreis Ahrweiler. Auch sein Vater arbeitete beim Abfallwirtschaftsbetrieb. Der 61-Jährige ist ein drahtiger, sportlicher Typ mit Drei-Tage-Bart, gelegentlich auch mal mit lila oder blauen Haaren, ein Freak, ein bunter Hund im Ahrtal. Vater und Sohn sind unzertrennlich. Vor, während und nach der Flut haben beide viel durchgemacht.
Der plötzliche Tod von Julians Mutter im Jahr 2017 nach einem Schlaganfall hat der Familie einen Schlag versetzt. Die Flut sorgte für den nächsten: Das Haus der Oma in Dernau, mit der Julian zusammenlebte, und das des Vaters in Marienthal standen unter Wasser. Die Oma verkraftete die Folgen nicht und starb ein Dreivierteljahr später, Vater Gerd hatte nach der Flut einen Hirnstamminfarkt, der aber folgenlos blieb. Motorradfahren war sein großes Hobby. „Dabei konnte er abschalten“, sagt sein Sohn.
Behördenschlamperei führte zum tödlichen Unfall
Den Ermittlern gegenüber gibt der Autofahrer an, dass er glaubte, auf einer Vorfahrtstraße zu sein. „Aufgrund der fehlenden Beschilderung ging der Beschuldigte von der Regelung ´Rechts-vor-Links` aus“, heißt es im Bericht der Staatsanwaltschaft. Tatsächlich stand zum Unfallzeitpunkt kein Vorfahrt-Achten-Schild mit der Code-Nummer 205 an der Einmündung vom Wallgarten auf die Tunnelstraße. Gerd Hohenreiter wurde zu Beginn als Unfallverursacher geführt.
Doch dann machten die Ermittler eine Entdeckung: Wenige hundert Meter vor der Unfallstelle, an der Ecke Brückenstraße/Tunnelstraße/Rossberg steht das Vorfahrtstraßenschild. Behördlich verquast heißt es in den Ermittlungsakten: „Bei einer Inaugenscheinnahme konnte an der Kreuzung im Ortskern Altenahr das Zeichen 306 (Vorfahrtstraße) für den Fortlauf der Tunnelstraße festgestellt werden.“ Aufgehoben wurde das Vorfahrtzeichen nicht. Gerd Hohenreiter hatte also Vorfahrt; doch der Unfallgegner konnte auch davon ausgehen, dass er im Recht war.
Wie kann das sein? Vor der Flut im Juli 2021 war die Vorfahrt an der Ecke Tunnelstraße/Im Wallgarten geregelt, wie aus den Ermittlungsakten hervorgeht. An der Straße „Im Wallgarten“ stand ein Vorfahrt-Achten-Schild, das durch die Flut weggerissen wurde. Bis zum tödlichen Motorradunfall von Gerd Hohenreiter am 29. Mai 2023 wurde es nicht wieder aufgestellt, der Verkehr war dem Zufall überlassen. Die amtliche Begründung: „Die unterbliebene Aufstellung ist darauf zurückzuführen, dass aufgrund der Vielzahl der Baustellen nach der Flutkatastrophe nicht direkt alle Beschilderungen aufgestellt werden konnten. Dies wurde nach dem Unfalltag unverzüglich nachgeholt“, heißt es in den Ermittlungsakten lakonisch.
Keine Sicherheit für die Menschen im Ahrtal
Mit anderen Worten: Gerd Hohenreiter musste wegen Behördenschlamperei sterben. „Er ist das 136. Flutopfer im Ahrtal “, sagt sein Sohn. In der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 starben 135 Menschen zwischen Blankenheim und Sinzig. Einen großen Anteil daran hat das Versagen der Verantwortlichen beim Katastrophenschutz . „Das ist ein weiterer Behördenskandal“, sagt Julian Hohenreiter. „Für eine Ahrtalbahn werden Milliarden Euro ausgegeben. Touristen sollen hierhin geholt werden. Aber das Ahrtal ist auch dreieinhalb Jahre nach der Flut nicht in der Lage, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen“, sagt der 31-jährige Dernauer.
Zusammen mit seiner Schwester Anna hat Julian Hohenreiter daher am Montag bei der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz einen Strafantrag gegen die Verbandsgemeinde Altenahr gestellt. Ihr Vater sei durch Behördenschlamperei gestorben, nicht durch „unvorhergesehene“ Ereignisse oder „unglückliche Umstände“. Der fehlende Schutz im Straßenverkehr ist eine Straftat, sagt ihr Anwalt Christian Hecken, für die die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssten.
„Wir wollen Gerechtigkeit“, sagt Julian Hohenreiter gegenüber FOCUS online Earth. „Und wir wollen, dass die Ungerechtigkeit dargestellt wird. Es soll ein Umdenken stattfinden im Ahrtal und bei der Generalstaatsanwaltschaft. Wir wollen, dass endlich Verantwortliche zur Verantwortung gezogen werden.“
Auch heute noch übernimmt niemand Verantwortung
In der Flutnacht habe niemand Verantwortung übernommen, „und heute ist es noch ganz genauso“, sagt Julian Hohenreiter. Niemand habe sich bis heute bei ihm und seiner Schwester entschuldigt. Bei der Beerdigung hatte er ausdrücklich darum gebeten, auf Beileidsbekundungen zu verzichten und den Fall lieber aufzuklären. „Die Landrätin und die Politiker haben sich nicht daran gehalten, sie wünschten uns Beileid“, ärgert sich Julian Hohenreiter noch heute.
FOCUS online Earth konfrontierte die Verbandsgemeindeverwaltung Altenahr mit den Vorwürfen der Geschwister aus Dernau. Die Antwort aus der Presseabteilung: „Bisher ist uns eine solche Strafanzeige nicht bekannt. Da es sich Ihrer Information nach um ein erst kürzlich eröffnetes Verfahren handelt, teile ich Ihnen mit, dass wir zu offenen Verfahren grundsätzlich keine Stellungnahme abgeben. Dementsprechend bitten wir von weiteren Anfragen zu einem späteren Zeitpunkt abzusehen.“
Für Julian Hohenreiter ist das Verhalten der Kreisverwaltung, für die er viele Jahre mit Begeisterung gearbeitet habe, in vielerlei Hinsicht nicht mehr hinzunehmen: Er kündigte seinen Job bei der Kreisabfallwirtschaft und arbeitet jetzt für ein privates Unternehmen.
Die Versicherung des „ortsfremden“ Unfallgegners verklagt derweil vor dem Landgericht Düsseldorf die Motorrad-Versicherung von Gerd Hohenreiter auf Schadensersatz.