FOCUS-Interview - Brenntag-Chef: „Hört auf mit der Jammerei!“

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Sofia Brandes für FOCUS-Magazin

Brenntag ist der weltgrößte Chemikalienhändler. Vorstandschef Christian Kohlpaintner spricht über das Selbstmitleid deutscher Manager und die Abhängigkeit von China.

FOCUS: Herr Kohlpaintner, Brenntag##chartIcon ist der größte Chemikalienhändler der Welt und feiert in diesen Tagen sein 150-Jahr-Jubiläum. Aber wie lange gibt es noch eine chemische Industrie in Deutschland?

Christian Kohlpaintner: Ich habe keine Sorge um die Existenz der Chemieindustrie in Deutschland oder in Europa. Ich bin jetzt 32 Jahre in der chemischen Industrie tätig und habe viele Aufs und Abs erlebt.

War es jemals so ernst wie heute? Die BASF##chartIcon verdient in der Heimat kein Geld mehr, Covestro##chartIcon wird nach Abu Dhabi verkauft. Evonik##chartIcon , Lanxess##chartIcon und andere leiden ebenso.

Tatsache ist: Die Chemieindustrie muss sich strukturell anpassen. Und das wird sie tun. Der Druck, gerade bei den Basischemikalien, ist erheblich und wird weiter zunehmen.

„Heimat der Spezialchemie ist immer noch Europa“

Was heißt das?

Die deutsche Chemieindustrie muss und wird mit einem höheren Ausmaß an Spezialisierung und Innovation antworten. Die Heimat der Spezialchemie ist immer noch Europa, nicht USA oder Asien.

Das Massengeschäft aber geben Sie verloren?

Da sind wir von zwei Seiten im klaren Nachteil im internationalen Wettbewerb – von der Rohstoffversorgung her wie von den Energiekosten. Das verschärft sich eher. Die europäische Chemieindustrie muss daher eine Lösung für die Überkapazitäten finden. Wir müssen rationalisieren, wir müssen konsolidieren.

Es werden Werke schließen, womöglich Zehntausende Arbeitsplätze verschwinden?

Bevor wir über Arbeitsplätze reden, müssen wir die Kapazitätsauslastung anschauen: Wie viele Produktionsstätten brauchen wir wirklich? Die Industrie muss sich anpassen, damit wir in Deutschland wettbewerbsfähige Chemiespieler hervorbringen, Unternehmen, die in der Lage sind, im globalen Wettbewerb mitzuhalten. Da habe ich momentan so meine Sorgen.

„Wir als Wirtschaft haben alles selbst in der Hand“

Weil die Politik der Wirtschaft das Leben schwer macht? Oder weil die Chemie-Manager nicht angemessen auf den Ernst der Lage reagieren?

Meine Philosophie ist: Wir als Wirtschaft haben alles selbst in der Hand. Ich halte nichts von Selbstmitleid. Natürlich müssen die politischen Rahmenbedingungen stimmen, aber vor allem: Wir als Chemieindustrie müssen unsere Hausaufgaben machen, und das wird nicht über Nacht zu erledigen sein. Die Anpassung wird uns für geraume Zeit begleiten.

Welche Rolle kann der Staat dabei spielen? Rufen Sie nach Subventionen für den Übergang?

Nein. Ich bin ein klarer Gegner von Subventionen. Subventionen sind nicht der richtige Weg, das sage ich auch in vielen Gesprächen mit Politikern: Jedes Gesetz, das ihr abschafft, jeden bürokratischen Aufwand, den ihr reduziert, hilft uns sehr viel mehr als irgendeine Subvention. Die Hausaufgaben liegen bei uns, bei den Unternehmen. Wir müssen diese erledigen, flankiert von stabilen politischen Verhältnissen, die wir Gott sei Dank in Deutschland haben.

Wie stabil sind die Verhältnisse tatsächlich, wenn die Ränder weiter erstarken, die AfD womöglich bundesweit auf 25 bis 30 Prozent zulegen sollte?

Die Art der Diskussion wird sich verändern, wie man das jetzt bereits beobachten kann in Thüringen oder Sachsen. Auf der anderen Seite habe ich ein sehr hohes Vertrauen in die Stabilität unserer Demokratie. Der bisweilen gezogene Vergleich mit Weimar greift aus meiner Sicht nicht. Die Akzeptanz, die Unterstützung für unsere Demokratie sind so tief verankert in unserer Gesellschaft, dass wir auch ein Stück weit Vertrauen haben sollten, auch bei größeren Verwerfungen gut miteinander umgehen zu können und damit eben nicht das zu gefährden, was wir heute haben, nämlich Freiheit, Demokratie und Frieden.

Wenn Sie die Geschichte ansprechen, welche Lehren ziehen Sie aus 150 Jahren Brenntag?

Brenntag hat einst als Eiergroßhändler in Berlin begonnen und sich immer sehr erfolgreich gewandelt, Neues probiert und hat sich dann aber auch immer wieder fokussiert auf das, was sie wirklich gut kann – die Chemiedistribution. Wir haben nach dem Krieg mit Splitt und Baustoffen gehandelt, hatten zeitweise 130 Tankstellen hier in NRW. Wir haben Schiffe angeschafft, die verschiedenste Produkte durch die Welt geschippert haben, bis wir immer wieder erkannt haben: Uff, wir haben zwar expandiert, weil es Geschäft gebracht hat und Bedarf war, aber wir konzentrieren uns jetzt besser wieder auf das, was wir wirklich gut können.

Im Juni 2023 haben Sie sich erfolgreich gewehrt gegen sogenannte aktivistische Investoren, die den Konzern in zwei Teile aufspalten wollten. War Ihnen das zu viel des Wandels?

Die Investoren waren der Hypothese gefolgt, dass ein schnelles Aufspalten der Firma sofortigen deutlichen Mehrwert für die Aktionäre kreieren wird. Das kann ich nicht erkennen.

Dabei haben Sie die Organisation selbst in zwei Teile getrennt.

Das ist etwas anders. Wir folgen der Logik, dass wir uns Schritt für Schritt so aufstellen, wie es im Markt notwendig ist – also dass wir unterscheiden zwischen Industriechemikalien und Spezialitäten, da wir es jeweils mit anderen Kunden und Lieferanten zu tun haben. Aber natürlich haben wir als traditionsreiches Unternehmen ein starkes Rückgrat, eine gemeinsame Basis, die uns viele Kostenvorteile bringt. Wo es keinen Sinn macht, die Bereiche aufzutrennen; zum Beispiel unsere IT oder Finanzen. Wir differenzieren uns dort, wo der Markt es erfordert. Wenn wir das Richtige tun für unsere Lieferanten und unsere Kunden und wenn wir unsere Hausaufgaben machen, dann wird sich das in einer höheren Profitabilität und einem höheren Wachstum umsetzen. Und dann wird sich als Konsequenz daraus der Wert des Unternehmens erhöhen, aber nicht umgekehrt, wenn wir als Erstes darauf starren: Wie steigern wir kurzfristig den Börsenwert?

Haben sich die Angreifer nach der Niederlage im vergangenen Jahr zurückgezogen, oder liegen sie noch immer auf der Lauer?

Zwei der drei Investoren haben nach unserer Erkenntnis ihre Anteile wieder verkauft, das heißt aber nicht, dass sie ihr Interesse verloren hätten.

Sie müssen damit rechnen, dass sie jederzeit wieder einsteigen und so ein Manöver wiederholen?

Das ist die ganz normale Praxis.

Brenntag hat angeblich im Dax##chartIcon den höchsten Anteil ausländischer Aktionäre. Haben Sie den genauen Überblick?

Der Anteil ausländischer Investoren, also alle außerhalb Deutschlands, liegt bei rund 80 Prozent, womit wir aber im Einklang mit dem Dax liegen.

Was finden diese ausgerechnet an diesem traditionellen, um nicht zu sagen langweiligen deutschen Unternehmen?

Vor allem schätzen sie die hohe Resilienz des Geschäftsmodells.

„Unser Geschäft ist extrem robust“

Was heißt das?

Unser Geschäft ist extrem robust. Das haben wir in der Pandemie gezeigt. Auch in schwierigsten Situationen haben wir an unsere Kunden geliefert, egal welcher Teil der Erde gerade im Lockdown war. Unser Geschäft ist wahrlich global und obendrein sehr skalierbar. Da unsere Branche noch sehr zersplittert ist, bleibt viel Raum zu wachsen. Wir sind mit 16 Milliarden Euro Umsatz Weltmarktführer, haben aber nicht einmal sieben Prozent Marktanteil. Das ist sehr, sehr klein.

Stocken Sie Ihren Etat für Übernahmen auf?

Das ist nicht nötig, weil wir ihn erst kürzlich verdoppelt haben. Wir geben 400 bis 500 Millionen Euro im Jahr für Übernahmen aus. Unsere Bilanzstruktur ist so stabil, dass wir das ohne Probleme bereitstellen können – da halten unsere deutlich kleineren Wettbewerber kaum mit. Hier laufen wir vorneweg, und der Abstand zu den Nächsten wird immer größer. Für die anderen wird es schwieriger, der Geschwindigkeit, mit der wir skalieren, zu folgen.

Müsste dann der Aktienkurs nicht stärker anziehen? Warum geht da nicht mehr?

Die weiterhin niedrigen Chemikalienpreise machen es uns als Distributor aktuell weiter schwer, eine Preispolitik zu fahren, die das Volumenwachstum, das wir sehen, entsprechend begleitet. Das belastet aktuell unsere Ergebnisse. Hinzu kommt das Thema, dass wir an der Börse immer noch als sehr deutsches Unternehmen der Chemieindustrie wahrgenommen werden.

Und da schadet jede negative Nachricht zu BASF und Co. Ihrem Börsenwert?

Wie auch immer die Chemiefirmen hierzulande heißen, die Schlagzeilen machen: Die Wahrnehmung der Brenntag hängt an der Entwicklung in Deutschland. Unser Aktienkurs sinkt und steigt mit den anderen Unternehmen aus der deutschen Chemiebranche, meist unabhängig von unserer eigenen Performance. Das ist nicht unbedingt rational. Die Folgen dieser Wahrnehmung liegen auf der Hand: Der Kurs spiegelt nicht das Potenzial, das in Brenntag steckt. Tatsächlich erzielen wir als weltgrößter Chemikalienhändler weniger als zehn Prozent unserer Umsätze in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zudem machen wir so viel mehr als klassische Chemie, sind als Dienstleister und Anwendungsberater in vielen verschiedenen Industrien im Einsatz.

Was die Aktionäre an Brenntag lieben, sind die hohen Gewinnausschüttungen. Wird es bei dieser Dividendenpolitik in der Zukunft bleiben?

Richtig, wir sind ein sehr verlässlicher Dividendenzahler. Seit unserem Börsengang im Jahr 2010 haben wir 13-mal die Dividende erhöht. Das schaffen nicht viele. Wir zählen zu den aktuell drei Dax-Unternehmen, die eine solche steigende Gewinnausschüttung hingelegt haben.

Entscheidend für die Weltwirtschaft ist China. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass China schnell aus der Konjunkturkrise kommt?

Die aktuelle Entscheidung, Stimulusprogramme aufzulegen und die Zinssätze zu reduzieren, zeigt, wie entschlossen China ist, aus der Defensive zu kommen. Die Bewältigung der Wirtschaftskrise ist von zentraler Bedeutung für die Stabilität der Volksrepublik. Das etablierte politische System wird von den Bürgern akzeptiert, wenn damit das Wohlstandsversprechen erfüllt wird.

Die Sorge des Westens ist die Abhängigkeit von China. Müssen wir zum Beispiel damit leben, dass wir erpressbar sind, wenn die Medikamente knapp werden und wir sie nur aus Asien geliefert bekommen?

Die Abhängigkeiten von Asien, die heute in Europa bestehen, sind in manchen Bereichen nicht gesund, da vor 20 und 30 Jahren ganze Teile der Vorproduktion der Chemie- und Pharmabranche abgewandert sind Richtung China, Indien und anderer Schwellenländer. Dagegen helfen robuste Lieferverträge und eine hohe Quervernetzung.

Können wir die Produktion nicht wenigstens teilweise zurückholen?

Da ist einiges an Träumerei in der Debatte. Wenn wir die Produktion grundsätzlich nach Europa zurückholen möchten, müssen wir den Menschen reinen Wein einschenken: Wer ist bereit, fünfmal so viel für einen Fernseher auszugeben, nur weil er aus einer Fabrik hierzulande kommt und nicht aus Asien? Diese Kommunikation muss offen und ehrlich sein. Wer in der Politik sagt, wir wollen autark werden, muss auch dazusagen: Das wird teuer, sogar sehr teuer. Wir müssen Bereiche definieren, die so wichtig sind, dass dort auch höhere Preise akzeptiert werden.

Medikamente wären ein Beispiel dafür.

Da bin ich bei Ihnen. Fiebermittel sind heute knapp, weil die Hersteller damals gesagt haben: Sorry, die damit erzielten Erlöse geben eine Produktion hierzulande nicht mehr her. Aus so etwas müssen die richtigen Schlüsse gezogen werden. Welches Preisniveau ist richtig für die Medikamente, damit die Produktion in Deutschland wieder möglich wird oder sie gar nicht erst abwandert?

„Wir Unternehmen brauchen keine Subventionen“

Noch drei schnelle Fragen mit der Bitte um kurze Antwort. Erstens: Wenn Sie an Deutschland denken – worauf sind Sie stolz?

Auf vieles! Es geht mir auf den Geist, dass wir immer nur das Negative sehen. Vieles in Deutschland ist gut und im Grundsatz in Ordnung: Bildung, duale Berufsausbildung, Handwerk, unsere stabilen Verhältnisse, das klare Bekenntnis zu Europa – wir stehen für Frieden, Freiheit und Demokratie.

Was nervt Sie aktuell am meisten am Land?

Die ständige Jammerei. Und dass darüber vergessen wird, ins Handeln zu kommen. Die Erkenntnisse liegen uns vor, wir sollten sie endlich umsetzen; nicht auf 30 Feldern gleichzeitig, sondern priorisiert und fokussiert auf drei oder vier Themen.

Welche Idee sollten wir am besten heute noch anpacken?

Den Abbau der Bürokratie. Wir Unternehmen brauchen keine Subventionen. Stutzt die Bürokratie, denn sie erstickt die unternehmerische Gestaltungsfreiheit!