Im FOCUS-Interview - Sigmar Gabriel zieht bitteres Syrien-Fazit und warnt vor Afghanistan-Szenario

Sigmar Gabriel bei einem Event<span class="copyright">Anadolu Agency via Getty Images</span>
Sigmar Gabriel bei einem EventAnadolu Agency via Getty Images

Er war für die SPD unter anderem schon Vize-Kanzler, Wirtschafts- und Außenminister. Auf die Geschehnisse in Damaskus blickt Sigmar Gabriel, 65, im FOCUS-Interview mit gemischten Gefühlen.

Herr Gabriel, hat Sie der Umsturz in Syrien überrascht?

Dass es noch islamistische Kämpfer gibt, war ja durchaus bekannt. Aber über die Wucht und die Geschwindigkeit ihres Sieges war ich sehr überrascht. Es zeigt, dass es mit jeder Diktatur einmal ganz schnell vorbei sein kann.

Ich vermute, dass das auch andere beobachtet haben und darüber verunsichert sind. Aber trotzdem rate ich zur Vorsicht, sich nicht zu früh darüber zu freuen, dass der blutige Baschar al-Assad weg ist und Rebellen das Land von seiner Herrschaft befreit haben.

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Sie gehören nicht zu den Optimisten?

Natürlich freue ich mich über Assads Sturz . Vor allem verstehe ich den Jubel der Menschen, die unter dem Regime des alten und des jungen Assads jahrzehntelang unfassbar gelitten haben.

Und auch dass Wladimir Putin offenbar durch seinen Krieg gegen die Ukraine so geschwächt ist, dass er nun tatenlos zusehen muss, wie sein einstiger Verbündeter die Flucht ergreift und Russland seinen einzigen Mittelmeerhafen verliert, ist ein gutes Ergebnis dieser Entwicklung.

Aber dennoch weiß noch niemand, welche Art Herrschaft in Syrien entstehen wird. Nicht selten folgt dem einen Menschenschinder der nächste.

Inwiefern?

Syrien hat nach dieser vermutlich von den USA, Israel und der Türkei geduldeten oder vielleicht sogar aktiv geförderten Operation keine Chance mehr auf eine geordnete Wiedereingliederung als ganzer Staat in die Völkergemeinschaft.

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Ein fragmentiertes Syrien aber kann auch neue Unsicherheiten und Instabilitäten für die ganze Region mit sich bringen. Wir sollten nicht vergessen, dass die Anführer der Rebellen sich dem Islamischen Staat verbunden fühlen.

Diese „Rebellen“ sind eine sehr brisante Mixtur aus Islamisten, Söldnern und gedungenen politischen Vagabunden. Sie haben keinerlei Interesse an einem geordneten Syrien demokratischen oder gar westlichen Zuschnitts. Offenbar bevorzugten die Mächte, die geholfen haben, Assad zu verjagen, die Destabilisierung Syriens als das kleinere Übel. Hoffentlich trügt diese Hoffnung am Ende nicht.

Gabriel warnt vor Afghanistan-Szenario

Was steckt für Sie dahinter?

Es ist wie so häufig: Die Feinde meines Feindes werden zu „Freunden“. Kurzfristig ist das ein Erfolg aus Sicht des Westens: Mit dem Islamischen Staat geht es gegen Russland und den Iran, um den naheliegenden Feind Syrien zu zertrümmern.

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Wie sehr das auch schiefgehen kann, haben wir in Afghanistan erlebt, wo die Mudschahedin zunächst Verbündete gegen die sowjetischen Besatzer waren – und später unsere erbittertsten Feinde. Die USA kontrollieren mit ihren Truppen die Ölvorkommen Syriens und vermarkten sie vermutlich gemeinsam mit den Türken. Die wiederum hoffen, freie Hand gegen die Gründung eines kurdischen Staates zu bekommen. Das kann schnell blutig werden.  

Bei uns wird derweil schon über die Rückkehr syrischer Flüchtlinge diskutiert. Vorschnell?

Ich vermute, dass zunächst die geflüchteten Syrer in der Türkei zurückkehren werden – freiwillig oder auf Druck der türkischen Regierung. Aber viele andere werden abwarten, was wirklich geschieht. Welcher Flüchtling sollte unter solchen unklaren Umständen nach Syrien zurückkehren wollen?

Angela Merkels Ansage, dass alle Syrer nach dem Frieden in ihre Heimat reisen, war vermutlich schon immer ein Irrtum. In der derzeitigen Lage sollten wir uns keine zu großen Hoffnungen auf eine massenhafte Rückkehr haben.

Gabriels bitteres Fazit: „Wir Europäer sind wieder nur Zuschauer“

Was bedeutet das alles für den Nahen und Mittleren Osten?

Zunächst zeigt es einmal mehr, dass wir Europäer wieder nur Zuschauer sind, obwohl es sich um unsere unmittelbare Nachbarschaft handelt. Es ist nicht einmal zu erkennen, dass man die Europäer überhaupt zu Rate gezogen hat.

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Anders kann ich die hilflosen Erklärungen aus Europa nicht deuten. Wir sind in den Augen anderer einfach kein Faktor, auf den man Rücksicht nehmen muss. Wenn es ernst wird, brauchen wir nach wie vor die USA. Aber auch die arabischen Staaten müssen sich erneut fragen lassen, warum sie selbst wieder einmal nicht die Kraft hatten, die Reintegration Syriens in die Staatengemeinschaft  – mit oder ohne Assad – bewerkstelligt zu haben.

Katar hatte dazu ja eine Reihe von wirklich guten Vorschlägen als Bedingung für die Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga gemacht. Leider ohne Erfolg, weil Staaten wie Saudi-Arabien das Regime Assads bedingungslos wieder aufnehmen wollten. Da die arabischen Staaten sich untereinander nicht grün sind, müssen sie nun erneut mit ansehen, dass wieder einmal fremde, nicht-arabische Mächte den arabischen Raum neu ordnen. Hoffen wir, dass es gut geht.