FOCUS-Kolumne von Jan Fleischhauer - Ausländerfeindlichkeit kannten wir. Jetzt lernen wir Inländerfeindlichkeit kennen
Die Regierung sagt nach Solingen: Wirklich etwas ändern? Alles zu kompliziert! Dabei ist die Lösung relativ einfach: Das Parlament schafft das Asylrecht ab und ersetzt es durch kontrollierte Einwanderung.
Der große Gesellschaftsbeobachter Frank Schirrmacher wies vor 16 Jahren in einem Kommentar für die „FAZ“ auf ein Phänomen hin, das ihm neu erschien und das in der aufgeklärten Öffentlichkeit nicht die Beachtung gefunden hatte, von dem er, der Herausgeber fand, dass es ihm gebührte.
Schirrmacher war aufgefallen, dass in den Polizeiberichten deutscher Großstädte ein Typus von Gewalttat auftauchte, der sich der statistischen Zuordnung entzog, weil er in keine der herkömmlichen Kategorien passte. Die Täter waren junge Männer türkischer oder arabischer Herkunft, die Tatorte die zufällige Begegnungsstätte des öffentlichen Nahverkehrs – ein Bus, ein U-Bahn-Wagen, eine Haltestelle –, die unversehens zum Schauplatz individueller Terrorakte wurden.
Der Anlass war meist nichtig, ein zu langer Blick, ein falsches Wort. Die Gewalt selbst zügellos. Wer bei einer solchen, mit unverminderter Körperkraft ausgeführten Attacke sein Leben behielt, konnte von Glück sagen. Die Taten geschahen scheinbar grundlos, aber nicht willkürlich. Es gab eine Voraussetzung, um zum Opfer zu werden: Man musste Deutscher sein. „Du Deutscher“ oder „Scheiß Deutscher“ war die verbale Signatur der Gewaltausbrüche.
Es kann einen überall treffen
„Uns war historisch unbekannt, dass eine Mehrheit zum rassistischen Hassobjekt einer Minderheit werden kann“, schrieb Schirrmacher, um dann eindringlich fortzufahren: „Dort, wo wir es bemerken, sind nicht ‚Auswüchse‘ zu beobachten, sondern hat der Übergang stattgefunden – jedenfalls spricht unendlich viel mehr für die Vermutung, es handele sich um eine Entwicklung, um Tendenzen, die auf Dauer angelegt sind, wenn nichts geschieht.“
Wir sind nicht länger auf Vermutungen angewiesen, ob wir uns am Anfang oder Ende einer Entwicklung befinden. Was Schirrmacher beschrieb, muss heute als Alltagserscheinung bezeichnet werden.
Nahezu wöchentlich erreichen uns Nachrichten von Angriffen auf Menschen, die dem entsprechen, was sich die Täter unter einem normalen Deutschen vorstellen. Und die Gewalttaten beschränken sich nicht mehr auf die Transiträume des öffentlichen Lebens.
Es kann einen überall treffen: auf einer Parkbank, beim Joggen. Nicht einmal der Aufenthalt in der Menge schützt einen verlässlich. Dass der Polizeichef von Solingen die Bürger darauf hinweist, dass jeder wissen müsse, ob er ein Volksfest oder ein Fußballspiel besuchen wolle, ist eine akkurate Beschreibung der neuen Wirklichkeit.
Warum wird Solingen als Zäsur empfunden? Es ist die Beiläufigkeit der Tat, die erschreckt. Jemand nimmt ein handelsübliches Messer, Klingenlänge fünfzehn Zentimeter, und sticht auf die Besucher eines Stadtfestes ein. So ein Messer findet sich in jeder Schublade.
Solingen fungiert als Kumulations- und Umschlagpunkt
Der Täter zeigt, soweit man weiß, auch keine psychischen Auffälligkeiten. Die deutsche Gesellschaft hat sich ihm gegenüber großzügig erwiesen. Sie hat ihn ernährt und mit einer Unterkunft versorgt, als er Not litt. Sie hat darüber hinweggesehen, dass er widersprüchliche Angaben machte, als er das Land betrat. Sie hat seinem Wort geglaubt. Zum Dank hat er sechs Menschen verletzt, davon drei so schwer, dass sie auf der Stelle tot waren.
Aber reicht das als Erklärung für die anhaltende Beschäftigung mit der Tat? Ich glaube, Solingen fungiert als Kumulations- und Umschlagpunkt, darin liegt die Bedeutung. Wir werden nach diesem Anschlag anders über Inländerfeindlichkeit reden, als wir es vorher getan haben.
Ich erinnere mich, wie ich im Juni auf X erstmals auf das Phänomen des Messerangriffs stieß. Eine Frau war von hinten in Hals und Kopf gestochen worden, während sie am Mainufer auf einer Bank saß. Der Täter: ein 19-jähriger Afghane, der sich der ihm unbekannten Frau mit einem Cuttermesser genähert hatte. Dann las ich am selben Tag von einem Angriff auf eine Joggerin im westfälischen Schermbeck, dann von einer Messerattacke in einer Regionalbahn in Saarbrücken. Aber in den Medien, die ich konsultiere, um mich auf dem Laufenden zu halten: bestenfalls Randgeschichten. So als wären die Angriffe nicht weiter beachtenswert.
Ich weiß noch, wie ich dachte: Vielleicht ist es ein Zufall, dass ich an einem Tag von gleich drei Vorfällen lese. Man bildet sich manches ja auch nur ein. Aber wie sich zeigt, habe ich mir nichts eingebildet.
Versagen bedeutet, dass man sich bemüht hat, etwas zu ändern
Kognitive Dissonanz nennt die psychologische Wissenschaft das Unwohlsein, das aus der Gleichzeitigkeit von zwei Wahrnehmungen entsteht, die nicht zueinander passen. Weil das menschliche Hirn darauf trainiert ist, Spannungen abzubauen, suchen wir nach einem Weg, den Widerspruch aufzuheben. Der einfachste Weg besteht darin, eine der beiden Wahrnehmung als unzutreffend auszublenden.
Nach den Erklärungen führender Politiker zu urteilen, hat sich die Bundesregierung dazu entschieden, die Wahrnehmungsblockade zu verteidigen. Die Innenministerin erklärt, die Gesellschaft müsse jetzt zusammenstehen. Der Bundespräsident appelliert an die Bürger, Ruhe zu bewahren. Der Kanzler wünscht sich vom Gericht eine harte Strafe, so als läge ein Justiz- und kein Politversagen vor.
Wobei von Versagen zu sprechen, ja schon eine Beschönigung ist. Versagen bedeutet, dass man sich bemüht hat, etwas zu ändern, aber dabei leider gescheitert ist. Tatsächlich erleben wir seit Jahren den Rückzug der Politik aus jeder Form der Verantwortung. Man spricht den Angehörigen sein Beileid aus, man versichert, dass für Terror kein Platz in Deutschland sei. Aber wenn es konkret werden soll, findet man vor allem Gründe, warum gegen das, was helfen könnte, rechtliche Hürden stehen.
Die Leute haben relativ realistische Vorstellungen, was Politik leisten kann und was nicht. Nur politische Phantasten können annehmen, dass morgen niemand mehr zum Messer greift, weil die Einwanderungsbestimmungen neugeregelt wurden. Im günstigsten Fall verringert man die Wahrscheinlichkeit weiterer Anschläge. Im realistischsten Szenario sorgt man dafür, dass die Zahl der Angriffe nicht noch weiter zunimmt, indem man zum ersten Mal genauer hinsieht, wen man ins Land lässt.
Große Parteien halten am Asylrecht fest
Die Lösung liegt auf der Hand, sie ist sogar relativ einfach. Zwei Drittel der im Bundestag vertretenen Abgeordneten einigen sich darauf, das Asylrecht in seiner jetzigen Form abzuschaffen und durch eine Aufnahmegarantie für eine näher zu bestimmende Zahl von Flüchtlingen zu ersetzen.
Was bei Gründung der Bundesrepublik als humanitäre Geste für politisch Verfolgten gedacht war, ist heute das größte Hindernis auf dem Weg zu einem modernen Einwanderungsrecht. Als die Verfassungsväter den Asylparagrafen ins Grundgesetz schrieben, hatten sie keine Vorstellungen, dass man in Kabul für 3000 Dollar eine Reise nach Deutschland organisieren kann.
Die Anerkennungsquote als politisch Verfolgter liegt bei vielen Herkunftsländern bei nicht einmal zwei Prozent. Dennoch halten die großen Parteien am Asylrecht fest. Es könnte sich ja unter den Antragstellern jemand befinden, der wirklich politische Verfolgung erleidet. Dafür nehmen sie in Kauf, dass jedes Jahr viele Menschen einen Schutzstatus erhalten, die in den großen Einwanderungsländern wie Kanada oder den USA nie eine Chance hätten.
Wer einmal im Land ist, dessen Bleibe-Chancen stehen gut
Auch der Attentäter von Solingen ist über den Asylparagrafen ins Land gekommen, so wie Hunderttausende Flüchtlinge mit ihm. Selbstverständlich wurde sein Antrag abgelehnt, so wie ebenfalls bei Hunderttausenden, was aber nicht dazu führte, dass er Deutschland hätte verlassen müssen. Wer einmal im Land ist, dessen Bleibe-Chancen stehen gut, daran werden auch alle Diskussionen über mehr Abschiebungen nichts ändern.
Ein begleiteter Charterflug nach Bulgarien oder die Türkei summiert sich auf 20.000 Euro, pro Person. Man muss kein Mathegenie sein, um sich auszurechnen, dass dieses niemals ein reguläres Ausreiseverfahren sein kann. Zumal ja noch nicht einmal sichergestellt ist, dass die Abgeschobenen nicht wenige Monate später wieder in Deutschland auftauchen.
Am Sonntag wurde die Vorsitzende der Partei, die den Kanzler stellt, gefragt, welche Lehren die Regierung aus dem Anschlag von Solingen ziehe. Dass man im Grunde keine Lehren ziehen könne, lautete ihre Antwort. Ich mag mich irren, aber ich glaube nicht, dass dies gut ausgehen wird – nicht für die SPD und nicht für das Land.